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Wo bleiben die Neuen?

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

Wenn Parteien versagen oder einfach die Zeit reif ist für Neues, dann dauert es in aller Regel nicht allzu lange, bis die Nachfrage der Wähler zu neuen Angeboten der Politik führt. Allein in der vergangenen Dekade hat sich die Parteienlandschaft in Frankreich, Italien, Griechenland, Spanien, Tschechien und teilweise auch Deutschland radikal verändert; in anderen Ländern, darunter Österreich, hat sich ein schleichender Veränderungsprozess weiter fortgesetzt. Nur in Großbritannien stehen wie eh und je Konservative und Labour einander in hartnäckiger Rat- und Hilflosigkeit über den Brexit gegenüber.

Dabei reagiert das britische Parteiensystem durchaus dynamisch auf neue Themen. Dafür sorgen allein schon die Spielregeln von Mehrheitswahlrecht und Direktwahlkreisen. Auf diese Weise hat sich etwa die sezessionistische schottische Regionalpartei SNP zur Vormacht im Norden der Insel entwickelt, hat auch Nordirland eigene Parteien, trieb sogar Ukip höchst erfolgreich das Ziel eines EU-Austritts Großbritanniens voran, ohne je dauerhaft im nationalen Parlament vertreten zu sein. Gleichzeitig verbannt das Wahlrecht Liberaldemokraten und Grüne in der Regel ins politische Niemandsland.

Die "splendid isolation" Großbritanniens immunisiert das Königreich also nicht grundsätzlich gegen politische Erschütterungen, wie sie die Parteiensysteme weiter Teile Kontinentaleuropas durcheinanderwirbeln. Warum bleibt aber dann eine Neuausrichtung der britischen Politik entlang des Brexit-Grabens aus, in der einander Austrittswillige und EU-Befürworter gegenüberstehen? Zumal die komplizierten Beziehungen Londons zu Brüssel die nationale politische Debatte schon seit Jahrzehnten prägen. Dass Tories wie Labour in dieser, nicht zuletzt für die Nation entscheidenden, Frage tief gespalten sind, ist eine zentrale Erklärung dafür, wie es überhaupt zum Brexit-Drama kommen konnte, das nun Regierung wie Opposition gleichermaßen lähmt wie umtreibt.

Klar ist, dass es immer gesellschaftliche Streitfragen gibt, die sich nicht nach den üblichen Frontverläufen der Politik richten, etwa bei Mega- und Metathemen wie Migration, aber auch Standort- oder Sozialpolitik. Darin liegt nicht zuletzt eine Chance, die potenzielle Sprengkraft solcher Themen in mäßigende Bahnen zu lenken und auf diese Weise politikfähig zu bleiben.

Doch genau dieser ausgleichende Mechanismus der Demokratie ist beim Umgang mit dem Verhältnis Londons zu Brüssel grandios gescheitert. Die wichtigste Entscheidung der britischen Politik seit 1945 sieht Parteien und Parlament gelähmt. In jedem anderen Land wäre das der Stoff, aus dem neue Parteien sind. Großbritannien ist anders, noch jedenfalls.