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Kickl versus Kant

Von Judith Belfkih

Leitartikel
Stv. Chefredakteurin Judith Belfkih
Stv. Chefredakteurin Judith Belfkih.
© WZ Online

"Das Recht muss nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Rechte angepasst werden. Alle Politik muss ihr Knie vor dem Rechte beugen." Der deutsche Philosoph Immanuel Kant sah das Zusammenspiel von Recht und Politik etwas anders als der österreichische Innenminister. Herbert Kickl ließ in einem TV-Interview aufhorchen, als er formulierte: "Das Recht hat der Politik zu folgen, und nicht die Politik dem Recht." Wem hier philosophisch Recht zu geben ist, das ist nicht zuletzt in der Verfassung nachzulesen: "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus", heißt es da bekanntlich in Artikel eins. Auch wer für das geltende Recht, also die Bundesgesetzgebung zuständig ist, ist geregelt: der Nationalrat und der Bundesrat.

Doch mit der Häme und den Diktatur-Vergleichen, die Kickl mit seiner Aussage ausgelöst hat, ist die Sache dennoch nicht erledigt. Genauer hat sie, wie jede einfache Lösung, mindestens zwei Haken. Natürlich ist es nicht nur Aufgabe der Politik, sich an die gemeinsam formulierten Regeln zu halten. Diese Regeln beruhen auf gesellschaftlichen Tatsachen, sind also nicht im luftleeren Raum gewachsen. Ändern sich diese Rahmenbedingungen und erweisen sich die gesetzlichen Regelungen als nicht mehr zeitgemäß, so ist es zentrale Aufgabe von Politik, diese den gewandelten Tatsachen anzupassen - im Rahmen demokratischer Mechanismen und eingedenk der Tatsache, dass nicht alles disponibel ist. Auf diesen nicht verhandelbaren Kodices, wie etwa den Menschenrechten, ruht das westliche Demokratieverständnis.

Die Zähigkeit, die demokratischer Gesetzgebung innewohnt, fußt in ihrer Komplexität. Ihre langsamen Mühlen verhindern, dass kurzwellige Zeitgeistblitze Niederschlag im gemeinsamen Kodex finden. Ob das zu mehr Gerechtigkeit führt, ist ein anderes Thema.

Hinter der Aussage des Innenministers steckt wohl die Erfahrung, dass die geltende Rechtslage die politische Gestaltungs- und Entscheidungsmacht einschränkt. Sonst müsste er eine Änderung für das politische Ziel nicht in den Raum stellen. Dass die FPÖ ein exklusives Recht auf diese realpolitische Erfahrung hat, darf bezweifelt werden - und wäre wohl als naiv zu bezeichnen.

Die Einschränkung im persönlichen wie politischen Handlungsspielraum, die Gesetze immer mit sich bringen, hat schon Kant formuliert: "Recht", schreibt er, "ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, insofern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist." Auf dieser Erkenntnis, dass der Schutz aller gesellschaftlich mehr wiegt als die Freiheit einzelner - sofern das eine nicht auf Kosten des anderen geht -, ist die Basis demokratischer Ethik. Vor wem das Recht im Einzelfall schützt, variiert. Mitunter kann es auch die Politik sein.