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Erdogans Luxus der Zeit

Von Martyna Czarnowska

Leitartikel
Martyna Czarnowska ist Redakteurin in der "Außenpolitik".
© Wiener Zeitung

Unregelmäßigkeiten oder gar Verfälschungen - der Vorwurf der Manipulation bei der türkischen Kommunalwahl stand im Raum. Und zwar sowohl vor als auch nach dem Urnengang. Vor dem Votum warnten Oppositionelle und Aktivisten davor, dass die regierende nationalkonservative AKP den Wahlvorgang zu ihren Gunsten beeinflussen werde. Danach war es nicht zuletzt die AKP, die von Unregelmäßigkeiten sprach - und einer möglichen Anfechtung des Wahlergebnisses. Denn in Ankara wird erstmals seit einem Vierteljahrhundert kein Politiker aus ihren Reihen das Bürgermeisteramt übernehmen, sondern einer aus der linksnationalistischen CHP, die die größte Oppositionskraft ist. Und in Istanbul lieferten sich die Kandidaten der beiden Gruppierungen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit zahlreichen Volten. Auch dort war die AKP in den vergangenen Jahrzehnten vorherrschend, dort hatte außerdem die politische Karriere von Recep Tayyip Erdogan begonnen, des ehemaligen Istanbuler Bürgermeisters, späteren Premiers und jetzigen Staatspräsidenten.

So mögen die Resultate in der Hauptstadt sowie der größten Metropole der Türkei zwar ein Dämpfer auch für Erdogan selbst sein. An dessen persönlicher Machtfülle rüttelt das sie allerdings nicht. Mit einer Verfassungsänderung wurde das politische Gewicht bereits vom Parlament hin zum Staatschef verlagert, und als zentralistisch organisierter Staat räumt die Türkei den einzelnen Provinzen sowieso nur eingeschränkte Befugnisse ein. Im Südosten des Landes wurden etliche kurdische Lokalpolitiker überhaupt entmachtet und durch regierungsnahe Statthalter ersetzt. Fast die gesamte Führungsriege der von Kurden dominierten Oppositionspartei HDP sitzt im Gefängnis.

Daher muss Erdogan, trotz der Rückschläge in Ankara und Istanbul, weder um seine Position noch die seiner Partei zittern. Er hat noch dazu den Luxus der Zeit: In den kommenden vier Jahren muss er keinen Wahlkampf führen; der nächste Urnengang steht erst 2023 an.

Erdogans Ankündigung, diese Zeit für wirtschaftliche Reformen zu nutzen, ist angesichts der Turbulenzen auf den Finanzmärkten und des massiven Geldabflusses aber zu wenig. Sie wird auch an der tiefen Spaltung der türkischen Gesellschaft wenig ändern. Denn Erdogan polarisiert viel zu gern, sowohl innen- als auch außenpolitisch - ob in den Beziehungen zur EU oder zu den USA.

Doch könnte parallel dazu die Opposition ebenfalls die kommende Zeit nutzen, um sich zu konsolidieren. Denn auch das zeigen die Resultate der Kommunalwahl: Bei aller Treue der AKP-Wähler gibt es Platz für andere Gruppierungen. Diese werden nun in den Städten mit dem größten Potenzial das Sagen haben.