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Zu viele Gefühle

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

Haben feingeistige Künstler auch ein feineres Sensorium für die Stimmungen, ja Gefährdungen ihrer Zeit?

"Hoffentlich nicht", antwortet Brigitte Bierlein, die oberste Hüterin der Rechtsstaatlichkeit in Österreich, auf diese Frage. "Sicher aber ist, dass Künstler ein anderes Sensorium haben. Und vor allem müssen sie sich nicht, oder jedenfalls nicht vordringlich, um rechtliche Kategorien kümmern." Tatsächlich finden sich wenige Hinweise darauf, dass die besonderen Fähigkeiten von Kunstschaffenden sich zwingend auch auf deren stichhaltige gesellschaftspolitische Erkenntnisfähigkeiten auswirken.

Zudem sind rechtliche Kategorien zweifellos nicht die unwesentlichste Perspektive, wenn es um ein Werturteil über die Qualität des Rechtsstaats geht. Mit dem ist es wie mit dem Kinderkriegen: Ein bisschen schwanger geht nicht, entweder die Unabhängigkeit der Justiz funktioniert und die Gewaltenteilung ist intakt - oder eben nicht.

Auch darauf hat die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs die einzig für Österreich mögliche Antwort gegeben: "Österreich ist eine gefestigte Demokratie mit einem funktionierenden Rechtsstaat." Wer das anders sieht, muss Tatsachen bemühen. Gefühle reichen da nicht. Auch das ist eine Frage des Respekts gegenüber dem liberalen Rechtsstaat: dass zählt, was ist und durch Fakten zu belegen oder eben zu widerlegen ist.

Einen Freibrief, die Kritik von öffentlichen Intellektuellen, kritischen Medien, politischen Konkurrenten oder NGOs einfach vom Tisch zu wischen, gibt es dennoch nicht. Abweichende Standpunkte eröffnen verlässlich neue Perspektiven, die einen vollständigeren Blick auf die Wirklichkeit ermöglichen. Von daher können auch Gefühle aufschlussreich sein, so lange sie jedenfalls nicht bloße Attitüde sind.

Dass es sehr wohl Gründe für politisches Unbehagen gibt, auch daran lässt die oberste Verfassungshüterin keinen Zweifel. Dass der Innenminister der Republik angebliche Erwartungen der Bürger rhetorisch gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Stellung bringt, ist eine Grenzüberschreitung aus niederen politischen Motiven. Und dies umso mehr, da sich die dem Minister unterstellten Behörden schon vor dem EuGH-Urteil penibel an die Vorgaben gehalten haben. Einfach, weil sie dem Rechtsstaat entsprechen.

Und trotzdem darf die Kritik, wenn sie politisch ernst genommen werden will, die überprüfbaren Fakten nicht ausblenden. Wenn die Grenzen zwischen der Freiheit der Kunst und den Pflichten der Politik bis zur Unkenntlichkeit verwischen, ist keinem geholfen. Schon gar nicht all den Bürgern, die nach verlässlicher Orientierung suchen.