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Die Mehrheit, mehr nicht

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

In der Mehrheit für Ursula von der Leyen steckt kein starkes Mandat, kein politischer Wille.


Also Perikles. Der Staatsmann, der Athen im 5. Jahrhundert vor Christus zur führenden Macht Griechenlands leitete, erhielt den Vorzug vor den sonst üblichen Klassikern für Zitate in Politikerreden. "Das Geheimnis des Glücks", schmetterte daher Ursula von der Leyen am Dienstag den EU-Abgeordneten entgegen, "ist die Freiheit, und das Geheimnis der Freiheit ist der Mut. Lassen Sie uns gemeinsam mutig sein für die EU."

Mit dem Mut der Verzweiflung kämpfte auch von der Leyen vor der Abstimmung. Statt eines kohärenten Programms für die kommenden fünf Jahre lockte sie Sozialdemokraten und Grüne mit Versprechen nach deren Gusto.

Eine äußerst knappe Mehrheit hat von der Leyen damit erreicht, sie wird die erste Frau an der Spitze der EU-Kommission. Aber in dieser Mehrheit steckt kein starkes Mandat, kein politischer Wille; nicht weil das Ergebnis besonders knapp ist, auch enge Mehrheiten können stark sein (und umgekehrt), sondern weil das neue EU-Parlament, im Moment jedenfalls, gar nicht fähig zur strukturellen Mehrheitsbildung ist; und die Gräben verlaufen quer durch etliche Fraktionen, was sich besonders bei den Sozialdemokraten zeigt. Dass etwa Italiens und Spaniens Rote für von der Leyen stimmten, jene aus Deutschland und Österreich aber gegen sie, muss man nicht verstehen.

Von der Leyen bezog sich nur mit einem schmalen Zitat auf Perikles, dabei böte dessen ganzes Wirken Anknüpfungspunkte für mutige Politiker. Selbst Teil der Elite, beschnitt Perikles den Einfluss der mit äußeren Mächten vernetzten Mächtigen; man denke nur, was das für die heutige EU mit Blick auf Russland, China und, ja, auch die USA bedeutet. Perikles stärkte die Demokratie um den Preis, dass er die vielen Zuwanderer vom Wahlrecht ausschloss; heute ist das Problem, dass viele Einwohner – in Wien rund 30 Prozent – nicht wählen dürfen. Er nutzte seine Macht über die Stadtsäckel zum eigenen Vorteil, was schon Zeitgenossen kritisierten; nichts Neues bis heute. Perikles stärkte das Militär und machte Athen zur Vormacht, ohne sich auf Abenteuer einzulassen; von einem solchen Mut zur Stärke kann die EU nur träumen.

Vor allem aber verwandelte Perikles seine Stadt zu einem Gesamtkunstwerk, dessen Erbe noch uns inspiriert. Einen solchen Anspruch auf die Führung der freien Welt – und darauf, deren Gegnern Paroli zu bieten –, findet man nur in Wahlkampfreden von EU-Politikern.

Ob die neue Kommissionspräsidentin den Mut und die Kraft hat, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen? Wollen würde sie wohl, aber dazu ist sie auf starke Partner angewiesen – im EU-Parlament, im Rat, in den Staaten. Die sind jedoch nirgends in Sicht.