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Die Bosporus-Illusion

Von Thomas Seifert

Leitartikel

Die Entfremdung zwischen der Türkei und dem Westen wird tiefer.


Es gibt kaum ein Land an den EU-Außengrenzen, das von größerer strategischer Bedeutung ist als die Türkei. Istanbul liegt am Zugang vom Mittelmeer ins Schwarze Meer und bildet die Brücke vom Balkan in den Nahen Osten und den Kaukasus.

Im Kalten Krieg war die Türkei ein wichtiges westliches Bollwerk gegen die Sowjetunion und ein wichtiger US-Verbündeter, wenn es um die Wahrung der Interessen der USA im Nahen Osten ging. Die drei nicht-arabischen Mächte in der Region- die Türkei, Israel und der Iran - waren die wichtigsten Nahost-Alliierten der USA. 1979 wurde Schah Mohammad Reza Pahlavi von der Islamischen Revolution hinweggefegt, und Persien wurde über Nacht vom engen Freund der USA zum Erzfeind.

Die Türkei wurde dadurch für die USA umso wichtiger. Etwa als Aufmarschgebiet von US-Truppen im Golfkrieg 1990/1991. In der postsowjetischen Ära verfolgte Ankara eine antagonistische Politik gegenüber Moskau: Im Bürgerkrieg in Tschetschenien unterstützte die Türkei etwa muslimische Separatisten, und wenn es um Syrien geht, stehen heute beide Länder auf unterschiedlichen Seiten.

Doch zuletzt hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Beziehungen zu Moskau vertieft: In der Energie- und Pipeline-Politik verfolgen beide Seiten gemeinsame Interessen, und zuletzt gelang Russland der Coup, ein Rüstungsgeschäft für S-400-Raketen an Land zu ziehen. Es ist zwar nicht das erste Mal, dass ein Nato-Mitglied russische Rüstungsgüter ankauft (Griechenland, Bulgarien und die Slowakei haben etwa das S-300-Flugabwehrsystem in Betrieb). Allerdings ist der türkische S-400-Rüstungsdeal nur der jüngste Streitpunkt in einer langen Reihe von Zerwürfnissen zwischen Ankara und Washington. Der S-400-Rüstungsdeal und die türkische Offensive gegen die mit den USA verbündeten syrischen Kurden haben den US-Kongress zu Sanktionen gegen die Türkei veranlasst. Davor hatte der Tweeter in Chief, US-Präsident Donald Trump, in einer seiner Internet-Kurznachrichten die Vernichtung der türkischen Wirtschaft angedroht. Nun reagiert Erdogan mit der Drohung, die Amerikaner aus der strategisch wichtigen Luftwaffenbasis Incirlik und der Radarstation Kurecik zu werfen. Der Streit eskaliert also weiter.

Spätestens seit dem Putschversuch von 2016 misstraut Erdogan den USA massiv. Er glaubt offenbar, sie hätten dabei ihre Finger im Spiel gehabt. Die Bosporus-Illusion ist längst geplatzt: Es gibt - zumindest unter den derzeitigen Bedingungen - keine EU-Perspektive für die Türkei. Und es ist eine Illusion, wenn die USA in der Türkei einen verlässlichen Nato-Partner sehen.