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Wie verwundbar wir sind

Von Klaus Huhold

Leitartikel

Das Coronavirus zeigt, wie brüchig unsere Zivilisation ist.


Schulen werden plötzlich abgeriegelt, Verdachtsfälle unter Quarantäne gestellt, medizinische Notfallpläne sind erarbeitet: Derzeit bündeln Staaten ihre Kräfte, um das Coronavirus zu bekämpfen. Das macht auch eines deutlich: Welch hohen Zivilisationsgrad die Menschheit schon erreicht hat.

Man denke nur daran, wie hilflos Gesellschaften früher Seuchen gegenüberstanden: Sei es die Pest, die einst ein Drittel der europäischen Bevölkerung ausrottete, sei es die Spanische Grippe, die am Ende des Ersten Weltkrieges und in den ersten Jahren danach Millionen Todesopfer forderte.

Trotzdem: Ein Gefühl der Hilflosigkeit bleibt. Zwar ist die Wahrscheinlichkeit einer Corona-Ansteckung in Österreich bei der geringen Anzahl an bestätigten Fällen unwahrscheinlich - was nichts am Ernst jedes einzelnen Falles ändert. Doch wir wissen nicht, wie sehr sich diese Epidemie noch ausbreiten wird; wir wissen nicht, ob das Virus mutiert; wir wissen nicht, wen es noch treffen wird.

Das Virus bleibt unberechenbar und führt uns damit vor Augen, wie verwundbar wir sind - als einzelne Wesen und als Gesellschaft. Gewöhnlich verdrängen wir diese Verwundbarkeit, weil sonst ein normales Leben kaum möglich wäre: Beim Überqueren der Straße, bei einer Grippeansteckung - das Leben ist für jedes Individuum sprichwörtlich ständig lebensgefährlich.

Und der Boden, auf dem unsere Zivilisation errichtet ist, kann schnell brüchig werden. Dass Supermärkte uns mit Lebensmitteln versorgen, dass aus den Leitungen Trinkwasser kommt - das ist alles weniger selbstverständlich als oft angenommen. Unser Alltag funktioniert nur, wenn in einem hochkomplexen System ein Rädchen ins andere greift. Nichts zeigt das deutlicher als die nun ausgesprochene Aufforderung, sich für den Notfall ausreichend mit Nahrungsmitteln und Mineralwasser zu versorgen.

Trotzdem: Auch wenn der perfekte Schutz nicht möglich ist, einen besseren haben große Teile der Menschheit nie gehabt. Das zeigt sich, wenn man noch einmal den Vergleich mit der Spanischen Grippe heranzieht. Neben vielen anderen Gründen hat die Pandemie viele Gesellschaften damals auch deshalb überrollt, weil diese durch den Ersten Weltkrieg so geschwächt waren. Nur in Friedenszeiten können Zivilisationen ihre Kräfte gegen Bedrohungen wie das Coronavirus bestmöglich bündeln. Deshalb führt uns das Virus auch vor Augen, wie wertvoll es ist, dass wir in einer Friedensgesellschaft leben. Das ist ebenfalls - blickt man darauf, dass in der Ostukraine nahe der EU-Grenze Krieg herrscht oder welche Gewaltfantasien im Internet oder bei manch politischer Rede ausgelebt werden - auch in Europa weniger selbstverständlich als angenommen.