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Die Kehrseite der Freiheit

Von Simon Rosner

Leitartikel

Wir müssen uns mehr mit dem eigenen Risiko beschäftigen.


Der erste Erfolg der kollektiven Anstrengung ist da. Die Epidemie ist unter Kontrolle. Vorerst. Nach Ostern beginnt die zweite Phase. Sie wird schwieriger, sagt Gesundheitsminister Rudolf Anschober. Und er hat recht. Die Regierung hat zur Eindämmung der Epidemie drastische Maßnahmen ergriffen, die sie nun, Schritt für Schritt, wieder aufheben wird. Das wird ein heikler Seiltanz, und zwar mit verbundenen Augen. Wir wissen nicht, welche Maßnahme wie viel gebracht hat, daher auch nicht, welche Rücknahme wie gefährlich ist. Nach dem Unter-Kontrolle-Bringen wird für die Politik das Unter-Kontrolle-Halten oberstes Ziel sein.

Die verordneten Einschränkungen des öffentlichen Lebens hatten aber auch einen anderen Effekt. Sie halfen jedem Einzelnen, das individuelle Risiko gering zu halten. Das ist etwas anderes als das epidemische Risiko. Durch die Defacto-Ausgangssperre wurden uns viele Entscheidungen des Alltags abgenommen. Wenn nun die verlorenen Freiheiten nach und nach wieder zurückkehren, bedeutet das auch, dass wir uns mehr als bisher mit unserem eigenen Risiko auseinandersetzen müssen. Wir dürfen wieder bummeln. Aber werden wir es auch tun? Wie wird sich unser Verhalten ändern? Welche Freunde werden wir wann treffen? Nehmen wir die U-Bahn oder doch das Rad, obwohl es etwas regnet? Die zurückkehrenden Freiheiten bedeuten nicht, dass sich an der persönlichen Gefahrenlage viel geändert hat. Tatsächlich sind heute offiziell mehr Menschen infektiös als vor dem Shutdown.

Die Regierung versucht, uns vor einer Epidemie zu schützen, nicht aber vor einer individuellen Ansteckung. Das kann sie auch nicht. In dieser zweiten Phase wird es um ein Leben mit dem Virus gehen, es wird eine neue Normalität. Je mehr sich diese der echten Normalität annähert, desto öfter werden wir vor schwierigen Risikoabwägungen stehen. Das gilt auch für die Betriebe. Bleiben sie beim Homeoffice? Und wie lange?

Um möglichst gute Einschätzungen treffen zu können, brauchen die Menschen aber mehr Informationen, auch wenn vieles noch unsicher ist. Man muss aber zumindest wissen, was mehr und was weniger riskant ist. Hier hat die Regierung bisher sehr dick aufgetragen. Vielleicht brauchte es das auch in Phase eins, um den anfangs nicht sehr ausgeprägten Ernst der Lage zu verdeutlichen.

Es hat auch gut funktioniert, die Menschen zogen mit, aber es hat auch Angst erzeugt, die Folgen hatte. Wenn aus Sorge vor einer Ansteckung im Spital Herzinfarktsymptome ignoriert werden, ist das ein Problem. Das ist aber passiert. Wenn die Regierung uns also wieder mehr Entscheidungsspielräume gibt, muss sie auch eine Spielanleitung mitliefern.