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Europas langer Weg

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

In der EU wird das Etikett "EU-feindlich" zu oft zu leichtfertig eingesetzt.


Es gibt für politisch Andersdenkende auseichend Stoff für Kritik an der Europapolitik der türkisen ÖVP im Allgemeinen und an Bundeskanzler Sebastian Kurz im Besonderen. Im Stil wie in der Sache, das reicht von der fast rituellen Beschwörung der illegalen Immigration über die ewige Betonung der eigenen Leistung bis hin zur Entscheidung, sich inhaltlich am jüngsten Sondergipfel für möglichst geringe Zuschüsse für die am stärksten von der Corona-Pandemie geplagten EU-Staaten sowie strikte Kontrollen bei der Verwendung der Mittel auszusprechen.

All das kann, wer diesbezüglich eine andere politische Meinung vertritt, zu Recht und gerne hart kritisieren. Aber macht eine solche Haltung aus einem Politiker einen "Europa-Feind", einen "EU-Skeptiker" oder einen "Nationalisten" (ein Begriff, der als politisches Schimpfwort in europhilen Kreisen eine erstaunliche Karriere erlebt)?

Zunächst einmal macht eine solche Etikettierung deutlich, wie weit die EU und ihre Öffentlichkeiten noch davon entfernt sind, den Satz "Es gibt in Europa keine Außenpolitik mehr, sondern nur noch eine europäische Innenpolitik" auch wirklich zu leben. Das ist einer dieser Stehsätze, der die historische Wucht beschreiben will, mit der die EU das Verständnis von und den Zugang zu Politik verändert. Zu Recht und vollkommen richtig.

Wenn dem tatsächlich so wäre, wäre ein Streit um mehr oder weniger Geld für die eine oder andere Region und darüber, wie diese Mittel dann auch eingesetzt werden sollen, keine existenzielle Sache; zumindest unter der Bedingung, dass nicht über die Notwendigkeit von Solidarität gestritten wird, sondern nur über deren konkrete Ausgestaltung im Detail.

In Österreich werden auf diese Weise im Rahmen eines Bundesstaats seit hundert Jahren Landtagswahl- und sonstige Verteilungskämpfe ausgetragen. Wundern würde man sich, wenn solcher Kampf um knappe Mittel einmal ausbleiben würde, nicht aber, dass sie stattfinden. Hier zieht schließlich eine eng abgestimmte Gruppe der "Spendablen Neun" im Rahmen eines Langzeitgipfels, der sich Finanzausgleichsverhandlungen nennt, dem frugalen Finanzminister regelmäßig die Hosen aus. Trotzdem ist - jedenfalls seit 1945 - noch kein Landeshauptmann je als "Österreich-Feind" bezeichnet worden.

Europapolitik wird erst dann als europäische Innenpolitik verstanden und gelebt, wenn auch die dazu gehörenden Verteilungskämpfe als Teil der politischen Normalität verstanden werden. Aber davon ist die Union ein gutes Stück entfernt. Und es ist, solange man sich bei der Identifikation der echten Feinde dermaßen unsicher ist, nicht nur eine Seite, die diesen Weg vor sich hat.