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Staaten mit Mission

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Der Kulturkampf in den USA ist eine Warnung an Europa, stets die eigenen Mythen zu hinterfragen.


Die USA sind längst nicht die einzige Nation, die aus ihrer Gründung eine Heldensage gemacht hat und den Staat zu höherer Mission berufen sieht. Ein Mittel ist die Heiligsprechung einzelner Texte und Institutionen, die so im Alltag der Kritik entzogen sind.

Dass jetzt eine Gegenkultur die US-Verfassung von 1787, die mit den donnernden Worten "We the People of the United States" anhebt und den Bau einer besseren und gerechten Welt zur Aufgabe erklärt, herausfordert, indem sie behauptet, die Gründung der Nation sei das Projekt einer privilegierten Gruppe gewesen, ist eine Provokation, ein Sakrileg für stolze US-Bürger. Für viele geht der Glaube an Gott mit der Besonderheit ihrer Nation Hand in Hand. Donald Trump ist nicht der erste Politiker, der einen Kulturkampf befeuert, weil er davon zu profitieren hofft. Und schon gar nicht wird er der letzte sein.

Viele Europäer blicken mit Fassungslosigkeit auf die Entwicklung in den USA. Damit einher geht eine neue Blüte eines tief verankerten Überlegenheitsgefühls der Alten gegenüber der Neuen Welt. Die meisten dieser - zumeist weltoffenen, gut situierten und westeuropäischen - Kritiker sind sich ziemlich sicher, dass die radikale Rücksichtslosigkeit, mit der in den USA um die Macht gekämpft wird, in ihren Breiten nicht mehr möglich sei. Man habe schließlich aus Diktatur und Faschismus gelernt.

Hoffentlich, Hochmut kommt trotzdem vor dem Fall. Die USA sind das Versuchslabor, der Innovationstreiber für die westliche Welt und darüber hinaus. Welche Mode auch immer zwischen New York und San Francisco erfunden wurde, sei es in Technologie, Wirtschaft, Kultur oder Politik, hat mit Verzögerung auch Europa erfasst; manches wurde 1:1 kopiert, das meiste an die eigenen Bedingungen angepasst. So war es jedenfalls in den vergangenen sieben Jahrzehnten, und wenig spricht dafür, dass sich das schnell ändern könnte.

Wenn daher der Wahlkampf den an allen Ecken und Enden lodernden Kulturkampf um das Selbstverständnis der USA ins Zentrum rückt, dann sollten europäische Augen das Drama nicht nur als surreales Theater beobachten. Einmal mehr könnte sich in den USA eine Version unserer eigenen Zukunft abspielen.

Was Europa daraus lernen kann? Wir sollten uns davor hüten, Verfassungen, Gründungsmythen und Institutionen für unantastbar zu erklären. Kritik ist die beste Gewährleistung dafür, dass neue Perspektiven und neue Generationen sich im gemeinsamen Staat sicher und zuhause fühlen. Konsens kann nicht dekretiert, sondern muss immer wieder aufs Neue erstritten werden.