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Verbote statt Hausverstand

Von Martina Madner

Leitartikel

Aus Freiheitsliebe Regeln zu biegen, stärkt eine Verbotskultur.


Eigentlich ist es für vernunftbegabte Menschen nicht so schwierig zu verstehen: Um sich mit der Lungenkrankheit Covid-19 nicht anzustecken, hält jeder, wo er kann, Abstand zu anderen Mitmenschen. Man vermeidet Zusammenkünfte in Gruppen. Und dort, wo man das nicht kann, trägt jeder eine Maske - und zwar so eine, die Viren, die wir vielleicht schon in uns tragen, nicht rundum entweichen lässt.

Trotzdem brauchte es den regulatorischen Hinweis in öffentlichen Verkehrsmitteln, dass auch im abgeschlossenen Stationsbereich ein Mund-Nasen-Schutz zu tragen ist. Trotzdem trug und trägt das Personal mancher Lokale einen drei Zentimeter kleinen Minivisier-Streifen oder zu den Gästen nach unten hin offene Gesichtsschilde. Trotzdem steigen manche ohne jeglichen Mund-Nasen-Schutz in Aufzüge ein. Trotzdem gab es in Kirchen im Sommer Gesang und keine Schutzmasken-Tragepflicht. Trotzdem sitzen Menschen dicht an dicht in Kaffeehäusern, Restaurants und Bars in Innenräumen. Trotzdem gab es Wahlkampfveranstaltungen, bei denen sich angeblich ebenfalls Verantwortung tragen wollende Politiker der FPÖ und vom Team HC Strache von Hunderten, laut Parteiangaben sogar Tausenden, dicht gedrängt ohne Maske zujubeln ließen und Hände schüttelten.

Vielen von uns sagt zwar der normale Hausverstand, dass nicht alles, was erlaubt ist, im Sinne eines solidarischen Vermeidens von Ansteckungsgefahren sinnvoll ist. Die Corona-Gesundheitskrise deckt aber einmal mehr auf, dass das individuelle Ausnutzen von Schlupflöchern in Regeln manchen näher ist als ein achtsamer Umgang mit Mitmenschen.

Solches Verhalten stärkt jene, die lauthals nach Verboten schreien, und es bestärkt jene, die glauben, dass alles, was verfassungsrechtlich durchreglementiert und reguliert werden kann, auch bis ins kleinste Detail in Gesetze oder Verordnungen gegossen werden muss. Aus angeblicher Freiheitsliebe Regeln zu biegen, stärkt also die Verbotskultur.

Nun hat sich die Regierung zu einem Verbot von Gesichtsschilden und Minivisieren entschlossen. Denn diese schränken - mittlerweile durch Studien bestätigt - die Verbreitung von Aerosolen nicht ein. Bevor nun wieder die Suche nach Ausnahmen startet, nach ungerechten Unterschieden im Regelwerk gesucht und juristische Ungenauigkeiten als gesetzwidrig eingeklagt werden: Dieses Verbot könnte, sofern es befolgt wird, manchen Gastronomiebetrieben mehr Gäste bescheren. Denn die vermutlich größere Gruppe an Vernunftbegabten, die ihre Lieben vor einer Ansteckung mit der Lungenkrankheit schützen wollen, meidet ohnehin Orte, wo kein Abstand möglich ist, nicht gelüftet wird oder die Schlupflochsuche Usus ist.