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Europa in der Sackgasse

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Der Streit mit Ungarn und Polen ist zur Machtprobe geworden. Dabei ist die EU eine Kompromisspro- duktionsmaschine.


Beim EU-Gipfel am Donnerstag droht ein Machtkampf: Polen und Ungarn blockieren wegen der künftig vorgesehen Möglichkeit, Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit mit der Kürzung von EU-Geldern zu ahnden, das EU-Budget sowie den Corona-Wiederaufbaufonds in Gesamthöhe von 1,8 Billionen Euro. Damit droht die notwendige schnelle Auszahlung mit Jahresbeginn auszufallen - ein verheerendes Bild für die Handlungsfähigkeit der Union inmitten der schwersten Pandemie seit hundert Jahren.

Machtkämpfe gehören zur Politik, die Mehrheit und manchmal auch nur der Stärkere sitzen oft, wenngleich nicht immer, am längeren Hebel. Also alles reine Routine? Leider nicht, denn das Problem ist, dass die EU für die Austragung von solchen Machtkämpfen grundsätzlich ungeeignet ist. Und zwar sowohl politisch-mental wie auch strukturell.

Ihrem eigentlichen Wesen nach ist die Europäische Union eine riesige und vielschichtige Kompromissproduktionsmaschine. Konflikte werden eben nicht mit blank gezogenen Waffen ausgetragen, bis es einen Gewinner gibt, sondern so oft hin- und her besprochen, mit anderen Themen verknüpft und durch Verzögerung vermittelt, verpackt und versteckt, bis alle irgendwie mit dem Ergebnis leben können. Die Möglichkeit des nationalen Vetos bei wichtigen Entscheidungen stellte auf mirakulöse Weise sicher, dass auch die Stärkeren einen Anreiz für Lösungen hatten, die einen Bruch zu vermeiden halfen.

Ein bisschen erinnert diese Kompromissproduktionsmaschine an die Sozialpartnerschaft. Auch hier wissen alle Beteiligten, dass es am Ende nur Verlierer gibt, wenn das Wertvollste auf der Strecke bleibt: die Fähigkeit zum Kompromiss.

Das ist jedoch unausweichlich, weil - im Gleichschritt mit dem Zeitgeist - politische Streitfragen zu moralischen Konflikten umgemünzt werden. In Sach- und Streitfragen sind, schwer genug, Kompromisse grundsätzlich möglich, in moralischen Fragen verbietet sich ein solcher aus prinzipiellen Gründen für alle Beteiligten.

An diesem Punkt ist die EU derzeit angekommen: Jeder Ausgang, so scheint es jedenfalls, verlangt die Unterwerfung einer Seite gegen die eigenen moralischen Überzeugungen, selbst dann, wenn diese nur vorgeschoben sein sollten. Machtfragen mit Machtmitteln auszutragen, führt die EU in eine Sackgasse. Die Kompromissproduktionsmaschine muss wieder angeworfen werden. Womöglich hat ja Angela Merkel eine weitere rettende Idee. Der Streit muss weg von Moral- wieder hin zu Sachfragen. Dann sind Lösungen möglich.