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Der Verlust der Menge

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Die Pandemie verhindert real erlebte Gemeinschaft. Das verengt die Demokratie.


In "Masse und Macht", geschrieben unter den abgründigen Eindrücken der europäischen Zwischenkriegszeit, analysiert Elias Canetti, wie in der Vereinigung vieler Einzelner etwas Neues entsteht, das den Horizont und das Lebensgefühl des eigenen Ich verwandelt. Für Canetti, der damals in Wien lebte, wurden die Massenproteste im Zusammenhang mit dem Brand des Justizpalasts 1927 zum prägenden Ereignis. Das emotionale Rauschgefühl, das ihn dabei ergreift und seine eigene Individualität aufsaugt, beschreibt er eindringlich.

In der Masse drohen wir, Distanz und Vernunft zu verlieren. Das erklärt die Skepsis der liberalen Demokratie gegenüber Massen. Das Misstrauen ist berechtigt, doch das Recht ist notwendig. Genau deswegen ist die politische Wirkung der großen Menschenzahl bis heute ungebrochen, weil virtuelle Protestformen die Aktion auf der Straße nicht zur Gänze ersetzen. Auch darin liegt ein Grund für die Anziehungskraft der realen Anti-Corona-Demos: Es gibt kein stärkeres Statement - so unvernünftig es auch ist - gegen die Corona-Maßnahmen, als sich öffentlich ihrer Hauptforderung zu widersetzen: Kontaktvermeidung und Abstand halten.

Für alle, welche die Gefahren der Pandemie ernst nehmen, sind Massenveranstaltungen vorerst weiter keine Option. Das betrifft auch die Kundgebungen zum 1. Mai, dem Tag der Arbeit, an dem die Linke - aber längst nicht mehr nur sie - sich der Verbundenheit mit den arbeitenden Massen vergewissern will. Während die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai in Paris, Istanbul oder Berlin den rituellen Krawallen gehört, ist in Wien der Tag der Arbeit immer noch die zentrale Machtdemonstration der Sozialdemokratie, für die sich zehntausende Menschen mobilisieren lassen. Doch wegen Sars-CoV-2 fällt der rote Aufmarsch nun bereits zum zweiten Mal ins Wasser.

Man muss kein Linker sein, um im Verlust des real erlebten Gemeinschaftsgefühls eine Verarmung und Verengung unserer Demokratie zu erkennen. Kundgebungen, Parteitage, Proteste sind notwendiger Bestandteil einer lebendigen politischen Kultur. All das, was Canetti am Phänomen der Masse faszinierte und erschreckte, verflüchtigt sich in Bits und Bytes.

Immerhin hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch die Gefahren einer Pandemie das Demonstrationsrecht nicht kippen können; beschränken durch Sicherheitsmaßnahmen, das ja, aber eben nicht unterbinden. Doch damit verliert auch die Botschaft der Demonstrierenden viel von ihrer Wucht. Nicht nur am 1. Mai, sondern auch an allen anderen 364 Tagen im Jahr.