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Corona-Impfpflicht - Gewalt oder Notwehr?

Von Eva Stanzl

Leitartikel

Ist es gerechtfertigt, wenige Menschen zu opfern, um viele zu retten?


263 Österreicherinnen und Österreicher haben sich von Sonntag auf Montag mit dem Coronavirus neu angesteckt - eine rasante Zunahme. Nur Impfen könne die Pandemie beenden, betonen Forscher auf der ganzen Welt. Die heimische Politik appelliert an die Eigenverantwortung der Menschen, sich für den rettenden Stich zu entscheiden. Doch sollte man in dieser Pandemie, die seit fast zwei Jahren kursiert und ständig neue Opfer fordert, tatsächlich auf Eigenverantwortung setzen? Ist es ethisch vertretbar, jeden Menschen darüber selbst entscheiden zu lassen?

Nicht unbedingt. Erstens kann ein Nein zum Vakzin einen schweren Krankheitsverlauf auslösen, der zum Tod führen kann. Zweitens genießen wir in anderen Bereichen der Gesundheit noch weniger Freiheit: Jeder Mensch in Österreich muss eine Krankenversicherung abschließen. Drittens können Nichtgeimpfte andere anstecken, was bei Geimpften als unwahrscheinlich gilt. Dadurch gewinnt das Virus Raum, um neue Mutationen auszuprobieren und infektiöser zu werden. Eine Impfpflicht könnte für alle vieles lösen. Österreich wird einmal mehr über sie nachdenken müssen.

Doch es gibt ein Dilemma, das die politische Entscheidung zwischen Eigenverantwortung und Impfpflicht erschwert. Derzeitige Vakzine können äußerst selten, aber doch, sehr ernste Nebenwirkungen hervorrufen. So treten bei einem bis zwei von 100.000 Geimpften, also bei 0,001 bis 0,002 Prozent der Impfungen, Sinusthrombosen auf, die tödlich enden können. Dem gegenüber stehen global vier Millionen Menschen, die an Covid-19 gestorben sind, mehr als 10.000 davon in Österreich.

Ist es gerechtfertigt, wenige zu opfern, um viele zu retten? Rein verfassungsrechtlich nicht. Die Impfpflicht stellt einen Eingriff in die körperliche Integrität und ins Recht auf Privatleben dar. Um sich darüber hinwegzusetzen, müsste die Politik sie wohl als einen Akt der Notwehr definieren - anders als bei der Sicherheitsgurtenpflicht, die nur Leben rettet und niemandem wehtut.

Der deutsche Bestsellerautor Ferdinand von Schirach präsentierte eine Frage dieses Kalibers in seinem Theaterstück "Terror - Ihr Urteil". Darin schießt der Bundeswehrpilot Lars Koch einen Airbus mit 164 Menschen ab, um 70.000 Personen in einem Stadion vor einem Terrorangriff zu retten. Im TV-Publikumsvoting wurde der Pilot freigesprochen. Erst vor wenigen Tagen sprachen sich im deutschen ZDF-Politbarometer übrigens 60 Prozent für eine Impfpflicht zumindest für bestimmte Berufsgruppen aus.