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Die Stimme des Volkes spricht nicht mehr

Von Judith Belfkih

Leitartikel

Diversität erweist sich mitunter als Problem - an der Wahl-Urne.


Von absoluten Mehrheiten und damit Alleinregierungen können Parteien in Europa meist nur noch träumen. Mehr noch: Das Beispiel Deutschland zeigt, dass eine parlamentarische Mehrheit mitunter sogar dreier Koalitionspartner bedarf. Die Sternstunde der Großparteien ist vorüber, das politische Spektrum wird bunter, Protestbewegungen allgemein Unzufriedener ziehen aus dem Stand in Landtage ein, siehe Oberösterreich. Das alles bildet die zunehmende Diversität unserer Gesellschaft ab. Die Welt wird bunter, die Politik auch. Alles gut, könnte man meinen. So einfach ist es aber nicht.

Beobachter sehen im steigenden Wechselmut der Wählerinnen und Wähler, der Prognosen ungenauer und Überraschungen wahrscheinlicher macht, ein Signal für einen gröberen politischen Umbruch. Dass hier Parteigrenzen verschwimmen, belegt der Erfolg von Protestparteien genauso wie der Zuspruch für eine Politik der Bürgernähe und des Servicegedankens, so wie in Graz. Wenn es populistischen Politikern dann gelingt, diese offensichtliche Unzufriedenheit für ihre Zwecke zu kanalisieren, taucht schnell die Drohkulisse der Krise der Demokratie am Horizont auf - siehe Ungarn.

Doch ist es wirklich die Demokratie, die in der Krise steckt? Wenn es eine Krise gibt, dann eine der demokratischen Instrumentarien, also der Mittel, die wir einsetzen, um demokratische Entscheidungen herbeizuführen - wie etwa der Kulturphilosoph Andreas Urs Sommer beim Philosophicum Lech analysierte. Ins Schussfeld gerät dabei die Form der Repräsentation als (beinahe einziges) demokratisches Instrumentarium. Umfragen und Wählerstromanalysen legen nahe, dass dieses Sich-vertreten-Fühlen von einer einzigen Partei für viele nicht mehr für alle Lebenslagen und Entscheidungen passt, sondern es möglich ist, sich in Sachfragen je in unterschiedlichen Lagern wiederzufinden. Unsere Gesellschaft ist zu heterogen, zu bunt geworden, als dass das Mittel der reinen Repräsentation noch treffsicher, noch zeitgemäß wäre. Diversität und Individualitätskult erweisen sich (auch) an der Urne als Problem. Die unisone Stimme des Volkes, es gibt sie nicht (mehr), sie ist zum polyphonen Chor geworden.

Sommer plädiert folglich für direktdemokratische Formen der Mitgestaltung. Eine schnelle Lösung bringt dieser Weg nicht. Denn die Praxis des gelebten Miteinanders braucht Übung und damit Zeit. Die (Partei-)Politik wird sich jedoch Möglichkeiten der stärkeren Einbindung einer sich nicht mehr ausreichend vertreten fühlenden Bevölkerung überlegen müssen - um nicht noch größere Überraschungen an der Urne zu erleben.