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Die Grünen müssen ziehen

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Niemand in dieser Republik vermag mit Gewissheit zu sagen, was in den kommenden Tagen geschieht.


Sebastian Kurz kämpft um sein politisches Überleben, und aus heutiger Sicht fällt es schwer zu erkennen, wie er diesen Kampf bestehen könnte. Wobei, so viel Transparenz muss sein: Journalisten, in Österreich zumal, haben sich als chronisch unzuverlässige Zukunftsdeuter erwiesen, zu oft haben zuletzt verrückte Volten die Auguren überrumpelt.

Jetzt ist es ein weiteres Mal so weit, nachdem die Grünen die Koalition in Frage gestellt haben: Man könne angesichts der Vorwürfe gegen den Kanzler und dessen Umfeld nicht zur Tagesordnung übergehen. Auf dem Spiel steht die Regierungsmehrheit von ÖVP und Grünen. SPÖ, FPÖ und Neos fordern unisono den Rücktritt des Kanzlers. Länder, Bünde und Minister der ÖVP stellten sich am Donnerstag hinter Kurz. Bleibt es dabei, stehen die Zeichen auf eine erneute Abwahl des Kanzlers bei der Sondersitzung des Nationalrats am Dienstag. Damit wäre die erste türkis-grüne Regierung der Republik bereits 21 Monate und eine Pandemie später auch schon wieder Geschichte.

SPÖ, Grüne und Neos wollen Neuwahlen, die dritten binnen vier Jahren, verhindern. Beharrt die ÖVP auf Kurz und entscheidet sich für die Opposition, müssen sich die drei Parteien mit der FPÖ auf eine neue Regierung verständigen. Stabilität sieht anders aus.

Ob eine solche Entwicklung von der ÖVP, der Gesamtpartei wohlgemerkt und nicht nur dem engsten Kreis um Kurz, zu Ende gedacht ist, darf bezweifelt werden. Zu sehr sind die Dinge in Bewegung.

Die Verantwortung liegt bei der Volkspartei. Deren Kalkül setzt darauf, die Schuld für das Ende der Koalition den Grünen umzuhängen. Bei den eigenen Anhängern kann das für den Moment verfangen; aber hält das, und taugt eine solche Wagenburg-Mentalität als Fundament für eine Zukunftsstrategie der ÖVP, zumal die gravierenden Vorwürfe nicht einfach verschwinden werden? Für die Grünen stehen dagegen bitter notwendige Erfolge wie die Einigung auf das Klimaschutzpaket und die ökosoziale Steuerreform auf dem Spiel, die bisher nur akkordiert, aber noch nicht im Parlament beschlossen sind. Sie müssen jetzt eine Entscheidung treffen, die unabsehbare Folgen haben kann.

Die ernüchternde Tatsache ist: Niemand in dieser Republik vermag mit Gewissheit zu sagen, was in den kommenden Tagen in der Politik dieses Landes geschehen wird. Nicht einmal ein freiwilliger Rückzug des Kanzlers, und sei es auf Zeit, ist ausgeschlossen. Dieses "Anything goes" ist nicht die Offenheit, die man sich als Bürger oder Bürgerin dieses Landes wünscht.