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Hirn und Bauch der ÖVP

Von Simon Rosner

Leitartikel

Die ÖVP steht vor zwei Optionen, und beide sind für sie furchtbar.


Wie soll denn das weiter funktionieren in der Bundesregierung? Die türkise ÖVP ist nach wie vor in einer absoluten Krisensituation, das war erst am Dienstag wieder im ORF-"Report"-Interview mit Verfassungsministerin Karoline Edtstadler zu beobachten. Das Vertrauen dem Koalitionspartner gegenüber ist nicht nahe Null, sondern weit darunter. Auf der anderen Seite scheint die Grünen die neue Situation so zu beflügeln, dass man gar nicht mehr versucht, sich auf die längst wunden Lippen zu beißen. Vizekanzler Werner Kogler spricht freimütig im Interview mit der "Zeit" über den starken Zug der ÖVP "zum Machterwerb, zum Machterhalt und zum Machtausbau", ehe er dann doch darauf verzichtet, in "allertiefste Psychodeutungen der ÖVP einzusteigen", wie er sagt. Das ist schon ein wenig unfreundlich, aber was raus muss, muss offenbar raus.

In wenigen Wochen hat die Bundesregierung eine völlige Umkehr der bisherigen Verhältnisse erlebt. Nun stellt sich die Frage, ob sie das länger als nur ein paar Wochen aushält.

Dabei ist die Rolle der ÖVP besonders interessant. Sie steht nämlich vor zwei Optionen, von denen jede aus Sicht der Türkisen furchtbar ist. Vorerst koaliert man weiter mit den Grünen; das ist, rational gesehen, auch die beste Variante für die ÖVP. Sie ist weiter an der Macht, sitzt an den Geldtöpfen des Bundes und kann gestalten. Und sie stellt auch weiterhin den Kanzler, selbst wenn es nun ein anderer ist.

Es ist aber unzweifelhaft die emotional schwierigste Option gewesen. Und sie ist es wohl auch weiterhin. Immerhin sind die Grünen, zumindest aus türkiser Sicht, dafür verantwortlich, dass Sebastian Kurz nur noch Klubchef ist, aus türkisen Reihen vernahm man gar das Wort "Verrat". Das ist bekanntlich ein starkes Gefühl, das eine gedeihliche Zusammenarbeit normalerweise verunmöglicht.
Die zweite Variante, quasi den Hut drauf zu hauen, weil es einfach nicht mehr mit den Grünen geht, ist emotional naheliegender, wäre aber mit einem unkalkulierbaren Risiko verbunden. Rational spricht alles dagegen.

In eine Neuwahl könnte die ÖVP unmöglich mit Kurz gehen, wenn möglicherweise weitere Chats publik würden. Wie demobilisierend solche Aufdeckungen sein können, kurz vor einer Wahl, hat die FPÖ im Jahr 2019 mit der Spesenaffäre erlebt. Da kann dann schnell einmal das Kanzleramt weg sein. Die ÖVP kann aber auch nicht ohne Kurz, jedenfalls nicht sofort. Es ist alles noch zu frisch, und Kurz ist ja zudem gewählter und nach wie vor von vielen bewunderter Parteichef.

Es läuft also auf einen Kampf zwischen Hirn und Bauch bei der ÖVP hinaus, und dieser Kampf kann einen schon einmal innerlich zerfressen.