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Ein Urteil als Fußballmatch

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Die Reaktionen auf den erstinstanzlichen Freispruch für Christian Pilnacek zeigen, wie wir sind.


Man bekommt ein Gespür für die aktuelle politische Verfasstheit der Republik, wenn nach einem Tag, an dem die Präsidentschaft Joe Bidens und dessen Projekt einer Versöhnung der tief gespaltenen USA möglicherweise bereits in ihrem ersten Jahr zum Scheitern verurteilt wurde, das Thema dieses Leitartikels trotzdem einem erstinstanzlichen Urteil gegen einen suspendierten Sektionschef des Justizministeriums in Österreich gilt. Und es gibt Gründe für dieses - jedenfalls von außen betrachtet - geradezu grotesk verzerrte Verständnis einer Themenhierarchie.

Die Richterin sprach am Mittwoch Christian Pilnacek, über Jahre hinweg der mächtigste Justizbeamte, gegen den anderweitig noch Ermittlungen laufen, vom Vorwurf frei, das Amtsgeheimnis gebrochen zu haben. Zwar habe der Sektionschef eine Information unzulässigerweise weitergegeben, was dieser auch eingestand, doch sei die Weitergabe dieses Amtsgeheimnisses nicht dazu geeignet gewesen, ein öffentliches oder ein berechtigtes privates Interesse zu verletzen.

Ein Fehlverhalten wird zweifelsfrei festgestellt, doch nicht der Tatbestand einer Gesetzesverletzung: Es fällt einigermaßen schwer, anhand dieses Richterspruchs in ein Gejohle von "Sieg" und "Niederlage" zu verfallen - und trotzdem geschieht genau dies, als ob ein Gericht in einem Strafprozess über Gerechtigkeit oder auch nur die Wahrheit entscheiden würde. Ein größeres Missverständnis über unser Justizsystem und dessen Verständnis von Recht und Gesetz ist kaum vorstellbar.

Nicht die Justiz ist politisiert, dafür liefern der erstinstanzliche Freispruch für Pilnacek, die teilweise Einstellung der Ermittlungen gegen den ehemaligen Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP) oder auch die durchaus überraschende Verurteilung von Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) belastbare Indizien. Allerdings ist der Blick der Parteien und zahlreicher analoger und noch mehr digitaler Aktivisten auf die Justiz in einem Ausmaß politisch determiniert, dass eine langfristige Beschädigung ihrer Unabhängigkeit zu befürchten ist.

Wenn die Haltung gegenüber der Justiz in diesem Land von der politischen Position des Beobachters und des jeweils Beschuldigten abhängt, hat die Republik ein Haltungsproblem allererster Ordnung. Nur aus einer solchen verqueren Perspektive können Gerichtsurteile zu "Siegen" oder "Niederlagen" verkommen - lange bevor noch überhaupt abschließend Recht gesprochen ist.