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Stress, Kalkül, Vernunft

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Es finden sich verlässlich selbst im offensichtlich Irrationalen noch Spuren von kühlem Kalkül.


Das Risiko für irrationale Entscheidungen, so erklärte am Donnerstag der Komplexitätsforscher Peter Klimek, steige in der momentan extrem angespannten Situation. Man kennt das: Stress, Druck und aufkommende Panik sind Gift für kühle Analyse und verbauen den Blick auf die Handlungsmöglichkeiten. Wunschdenken ersetzt so lange Vernunft, bis sich die Wirklichkeit auch mit dem stärksten Willen nicht länger ignorieren lässt.

Wie sich ein solcher Prozess auf höchster politischer Ebene abspielt, erlebte die Öffentlichkeit in den vergangenen Tagen recht ungefiltert am Beispiel der Landeshauptleute von Oberösterreich und Salzburg. Beide hatten sich erst mit Macht gegen einen Lockdown für alle ausgesprochen, nur um nun am Donnerstag diese härteste, aber auch wirksamste Maßnahme zu verkünden, um - hoffentlich - auf den letzten Drücker einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu verhindern.

Man sollte sich jedoch nicht täuschen lassen: Es finden sich verlässlich selbst im offensichtlich Irrationalen noch Spuren von kühlem Kalkül. Dass sich Salzburg und Oberösterreich mit der Entscheidung für den harten Lockdown nun doch ins Unvermeidliche gefügt haben, lässt den Schluss zu, dass der Bund zumindest bis Donnerstag nicht bereit war, die Verantwortung für diesen Schritt zu übernehmen.

Bisher gilt ja die Devise "Kein Lockdown für Geimpfte" vor allem für die Bundes-ÖVP als rote Linie - sei es aus echter Überzeugung oder als vergiftete Altlast von Ex-Kanzler Sebastian Kurz. Wenn ein Lockdown tatsächlich als unvermeidlich betrachtet wird, dann sollen ihn die Länder beschließen. Dass dieses Mal die Ostregion offenbleibt, der Westen und Süden aber zusperren, ist nicht ausgeschlossen. Spannend wird es, falls sich alle neun Länder fürs Zusperren entscheiden, aber ohne den Bund. Die Kluft zwischen Bund und Ländern in der ÖVP wäre dann groß wie nie in den vergangenen Jahren.

Eher (jedenfalls Stand Donnerstag) scheint die Kanzlerpartei bereit, ihre bisherige - mit den Grünen geteilte - Ablehnung einer Impfpflicht über Bord zu werfen, zumal nicht nur die epidemiologische Lage, sondern auch das Gros der Rechtsexperten eine solche Maßnahme mittlerweile für vertretbar, wenn nicht geboten erachten.

So gesehen wäre die Einführung einer weitgehenden Impfpflicht eine rationale Entscheidung in einer extrem angespannten Situation, obwohl dieser Schritt kurzfristig nicht hilft. Irrational bleibt, dass nicht rechtzeitig gehandelt wurde, um diese längst absehbare Konstellation zu vermeiden. Klimeks These lässt sich nicht so leicht widerlegen.