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Wie erinnern?

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Wie lässt sich die Erinnerung an die Schoah lebendig und relevant halten? Durch hartnäckigen Selbstzweifel.


Wie soll eine Gesellschaft die Erinnerung an ein Ereignis wachhalten, dessen letzte Zeitzeugen sterben und dessen Ursachen wie Folgen weiter einen Schatten auf die Gegenwart werfen? Das Gedenken an den Holocaust und die Warnungen vor der ungebrochenen Kraft des Antisemitismus, die am Donnerstag anlässlich des Jahrestags der Befreiung des Massenvernichtungslagers Auschwitz begangen wurde, zeigt die Schwierigkeiten auf.

Studien wie Alltagsbeobachtung zeigen, dass Stigmatisierung und Gewalt gegen Juden erneut auf dem Vormarsch sind; nicht nur, aber eben auch bei Protesten gegen Corona-Maßnahmen lässt sich das beobachten.

Daraus lässt sich ableiten, dass die bisherigen Strategien gegen Antisemitismus nicht rasend erfolgreich sind. Der im Vorjahr verstorbene Philosoph Rudolf Burger hat vor zwanzig Jahren die These aufgestellt, dass in jeder zum Ritual erstarrten Form des Erinnerns die Gefahr stecke, das Gegenteil des Beabsichtigten zu bewirken. Dazu gab es wilde Polemiken, aber keine Debatte über ihr Für und Wider. Womöglich liegt gerade auch darin ein Grund für unsere gegenwärtige Rat- und Hilflosigkeit.

Was bleibt, ist die Frage: Wie kann, wie soll eine Gesellschaft die Erinnerung an eine Zäsur ihrer Geschichte wachhalten, deren letzte Augenzeugen bald gestorben sein werden, die aber trotzdem eine zentrale Botschaft für die Gegenwart und Zukunft parat hält? In einer Debatte im Parlament gestand der deutsch-französische Jurist und Publizist Michel Friedman ein, er könne die zur Formel erstarrte Parole "Niemals wieder!" nicht mehr hören. Entscheidend sei die Erkenntnis, dass die Schoah dazu geführt habe, die Demokratie auf ein humanistisches Fundament zu stellen. Für ihn sei das im programmatischen Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes verankert, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt.

Das ist, als Selbstanspruch für eine Gesellschaft, ein großer Satz, leicht zu behaupten, aber schwer umzusetzen. Das erste Missverständnis besteht darin, diesen Anspruch auf das Recht zu begrenzen; ein zweites, den Auftrag an die Politik zu delegieren; diese wäre überfordert, weil ihr Wesen im Ausgleich von Interessen liegt. Das dritte Missverständnis besteht schließlich darin, sich mit diesem Anspruch zu sicher zu fühlen: "Moralische Sicherheit existiert nicht", notierte Theodor W. Adorno in seiner "Negativen Dialektik", "sie zu unterstellen, wäre bereits amoralisch, falsche Entlastung des Individuums von dem, was irgend Sittlichkeit heißen dürfte." Anders formuliert: Es liegt an uns.