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Boris Johnsons Charakterfehler

Von Thomas Seifert

Leitartikel

Boris Johnson ist so oder so als Premierminister gescheitert.


Boris Johnson ist als britischer Premierminister krachend gescheitert - selbst wenn er Montag Abend das Misstrauensvotum seiner eigenen konservativen Abgeordneten überstanden hat. Angezählt ist er trotzdem, denn ein Premier, an den selbst eine veritable Minderheit seiner eigenen Partei nicht mehr glaubt, ist politisch mehr tot als lebendig.

Johnson hat das Land auf Brexit-Kurs gesteuert und kräftig dazu beigetragen, mit dreisten Lügen und absurden Versprechungen eine Mehrheit für das Pro-Brexit-Lager zu sichern.

Im Juli 2019 konnte Johnson - nachdem er mit seinen Getreuen Theresa May zum Aufgeben gezwungen hatte - selbst im Juli als Premier in Downing Street 10 einziehen. Im Dezember gewannen die Konservativen unter seiner Führung und mit seinem Slogan "Get Brexit done!" die Wahl deutlich.

Doch Referenden und Wahlen zu gewinnen ist das eine - sorgsam, umsichtig und klug zu regieren, ist etwas völlig anderes. Denn nach dem Referendum interpretierte Johnson das knappe Votum für den EU-Austritt als Mandat für einen beinharten Brexit. Die Folgen: Auf den Britischen Inseln droht das Wiederaufflammen des Nordirland-Konfliktes, Großbritannien ist verglichen mit den wichtigen EU-Partnern Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum, und Rekordhalter bei der Inflation (die Kerninflation ist doppelt so hoch wie in der Eurozone), es fehlt an Arbeitskräften, und der einfache Zugang zum riesigen und lukrativen EU-Markt ist perdú.

Dass man in London keine Skrupel hätte, längst mit der EU abgeschlossene Verträge einfach zu brechen, hat die europäischen Partner nachhaltig verstört.

Das größte Problem Johnsons war immer sein Charakterfehler: Am Elite-Internat Eton College und der ehrwürdigen Oxford Universität hat man ihm offenbar weder ein Gefühl für Schicklichkeit noch Aufrichtigkeit und Seriosität beigebracht. Als Premierminister schickte er die Briten in den harten Lockdown, während er selbst mit Kolleginnen und Kollegen seines innersten Kreises Partys feierte. Obwohl Fotos kursierten und Partygate wochenlang das politische Tratsch-Thema Nummer eins in Großbritannien war, hat er danach sehr lange gebraucht, um zuzugeben, dass er mitgefeiert hat, und noch länger, bis er sich dafür entschuldigt hat.

Neben Partygate wurde die Tory-Partei zuletzt von weiteren Skandalen erschüttert: So finden am 23. Juni Zwischenwahlen in zwei Wahlbezirken statt, weil ein konservativer Abgeordneter zurücktreten musste, der einen 15-jährigen Teenager sexuell missbraucht hatte und dafür verurteilt wurde. Ein Zweiter hatte während einer Parlamentssitzung Pornos auf seinem Handy geschaut. Die seit 2010 an der Macht befindlichen Konservativen stecken in einer tiefen moralischen Krise, und das wird in verstörenden Transgressionen überdeutlich.

Für die Malaise der konservativen Partei ist Boris Johnson nicht alleine verantwortlich: Aber niemand sonst verkörpert den moralischen Verfall und die Beliebigkeit dieser Partei besser als Johnson. Da passt es ins Bild, dass ihn die eigenen Abgeordneten noch einmal davonkommen ließen: Es gibt bei den Konservativen eben derzeit keine Alternative zu Johnson. Und das zeigt, wie es um diese Partei steht.

Dieser Text wurde am 6.6.2022 um 22:10 Uhr aktualisiert, als feststand, dass Johnson das Misstrauensvotum erwartungsgemäß überstanden hat.