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Die größte Gefahr für Kiew

Von Ronald Schönhuber

Leitartikel

Im Westen wächst das Risiko einer Ukraine-Müdigkeit deutlich. Darauf baut Putin.


Knapp vier Wochen ist es her, dass Wolodymyr Selenskyj zum ersten Mal einen Hinweis auf die eigenen Verluste im Donbass gegeben hat. 50 bis 100 ukrainische Soldaten würden pro Tag auf den Schlachtfeldern im Osten sterben, sagte der Präsident damals. Mittlerweile sind aus den 50 bis 100 Gefallenen pro Tag 200 geworden. Denn der Krieg wird immer mehr zum Abnutzungskampf, in dem auch der Blutzoll der Ukraine unweigerlich steigt.

Bestimmten in der ersten Phase nach dem russischen Überfall leichte und mobile Infanterieteams, die mit hochmodernen Lenkwaffen russische Panzer ausschalteten, das Schlachtgeschehen, so sind es nun Haubitzen und Raketenwerfer, bei denen Russland deutlich überlegen ist. Die russische Armee, die geschätzt neunmal so viele Artilleriesysteme wie die Ukraine im Einsatz hat, verfügt über genug Munition, um ganze Städte dem Erdboden gleichzumachen; die Ukraine kämpft dagegen bereits mit Munitionsengpässen und muss abwägen, welche Ziele sie ins Visier nimmt.

Seit Beginn der russischen Invasion dürfte die Ukraine also noch nie so abhängig von schnellen Waffen- und Munitionslieferungen aus dem Westen gewesen sein wie jetzt. Doch mit jedem Tag, der vergeht, wächst mittlerweile die Gefahr, dass das Interesse an der Ukraine im Westen erodiert. Die ukrainischen Traktoren, die in zahllosen Social-Media-Clips zurückgelassene russische Panzer abschleppen, haben ihren Sensationswert verloren, und zu den Geschichten über den bewundernswerten ukrainischen Heldenmut gesellen sich zunehmend solche, die von Aussichtslosigkeit und Resignation erzählen.

Gleichzeitig beginnen die Menschen in Europa und den USA die Auswirkungen des mitunter weit entfernten Krieges in ihrem eigenen Lebensumfeld zu spüren. Das Tanken ist deutlich teurer geworden, die Kosten für Strom und Gas sind teilweise explodiert.

Ein größeres und fataleres Geschenk als eine wachsende Ukraine-Müdigkeit kann der Westen dem Kriegsherren im Kreml aber kaum machen. Denn schon jetzt spekuliert Wladimir Putin, der erst vor kurzem die Eroberungsfeldzüge Peters des Großen als Vorbild angeführt hat, darauf, dass Russland mehr Schmerz ertragen kann als der Westen. Und dabei geht es gar nicht einmal so sehr darum, dass Russlands Präsident den Westen als verweichlicht ansieht. Vielmehr ist sich Putin sehr bewusst, dass westliche Politiker in Wahlzyklen denken und sich vor den Menschen verantworten müssen. Im russischen Staatsfernsehen verkünden Putins Propagandisten schon jetzt, dass man sich nur noch bis zu den US-Midterms im November hinüberretten müsse.