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Staatskunst-Talente gefragt

Von Thomas Seifert

Leitartikel

Instagramisierung ist nicht das größte Problem der Politik.


Nichts ist stärker als eine Debatte, deren Zeit gekommen ist: Die Debatte über das Fehlen von Talenten in der Politik ist so eine. In den vergangenen Jahrzehnten lebte Europa nach dem Ende des Blockkonflikts gut von der Friedensdividende, in den Schuwi-du-Jahren nach 1989 lautete die Erfolgsformel für Politiker: "Nicht das Erreichte zählt, das Erzählte reicht." Politiker wurden vom Zeitgeist als Sand im Getriebe verachtet, deren Gagen zu hoch und deren Privilegien unverschämt seien.

Doch die Zeiten glatter See sind längst vorbei, es kommen härtere Tage, Schönwetterpolitiker sind nicht mehr länger gefragt. Aber wer möchte nun bei Sturm und Regen auf der Kommandobrücke stehen?

"Westliche Demokratien haben ein Talent-Problem", schrieb vor wenigen Tagen Janan Ganesh, Kolumnist der "Financial Times" für internationale Politik. "Demokratischer Kapitalismus" sei in gewisser Weise selbstzerstörerisch, schreibt Ganesh, wenn die kompetentesten und besten Leute im privaten Sektor Jobs annehmen anstatt in Politik und Verwaltung. Wenn aber die Qualität von Institutionen, gesetzgebende Körperschaften und öffentliche Einrichtungen erodiert, bedroht das irgendwann das Staatsganze und natürlich auch den privaten Sektor.

Eine Überraschung ist dieser Niedergang der classe politique freilich nicht: Für Jobs mit vergleichbarer Verantwortung gibt es im privaten Sektor viel bessere Gehälter und das ganz ohne lästige Dauerkritik von Medien und Zivilgesellschaft.

Anfang dieses Monats ist unter dem Titel "Staatskunst" ein Buch von Henry Kissinger erschienen, in dem der 99-Jährige versucht, Lehren aus Politikerbiografien zu ziehen.

Schuld an der Krise der Staatskunst seien Niedergang der Meritokratie, Werteverlust und die Ablösung der literarischen durch die visuelle Gesellschaft. All das soll dazu führen, dass selbst die Eliten nicht mehr dazu in der Lage sind, komplexe Analysen zu treffen und große Ideen zu wälzen.

Doch ist die Instagramisierung der Politik tatsächlich deren größtes Problem? Oder ist es nicht eher intellektuelle Faulheit, weil Träume durch Albträume ersetzt wurden und Angstpolitik die Politik der Vision abgelöst hat?

Man kann nämlich politische Subjekte auf zwei Arten gewinnen: Man kann - wie Moses - den Menschen Mut machen, aufzubrechen ins gelobte Land. Rezente Beispiele: Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Nelson Mandela. Oder man verspricht, als Gorilla-Silberrücken die Sippe vor den Gefahren des Dschungels zu schützen - so wie Donald Trump oder Viktor Orban. Für das Moses-Führungsmodell bräuchte man Grips, Kreativität und Fantasie, für das Silberrücken-System reicht Ressentiment.