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Ein Recht, keine Gnade

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Von Bürgern ist zu erwarten, dass sie selbst dann in großer Mehrheit vernünftig handeln, wenn die Politik es anders hält.


Die Idee von Eigenverantwortung war schon immer ein ideologisches Schlachtfeld, so wie der eng mit ihr verbundene, aber mit noch mehr Pathos aufgeladene Begriff der Freiheit. Für Liberale und die meisten Konservativen endet der Regelungsanspruch des Staates, wo die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen, der Familie oder des Unternehmens beginnt. Klassische und neue Linke, obwohl individuellen Rechten verpflichtet, haben in dieser Grenzziehung immer auch den Versuch gesehen, den Staats einzuengen und finanzielle Lasten auf die Armen abzuladen.

Die Debatte um das Recht und die Grenzen von Eigenverantwortung hat mit der Pandemie neue grundsätzliche wie alltagsrelevante Relevanz erhalten. Wie viele und wie strenge Regeln der Staat verordnete, hing spätestens nach der allerersten Phase neben der medizinischen Bewertung immer auch von der Einschätzung ab, wie sich die Menschen andernfalls verhalten würden.

Die heimische Bilanz eines eigenverantwortlichen Pandemiemanagements fällt, um der Wahrheit die Ehre zu geben, eher ernüchternd aus, wenngleich sich die Verantwortung hierfür Bürger und Politik teilen dürfen. Bei der Bereitschaft, sich an Regeln und Empfehlungen zu halten, spielt eben auch eine Rolle, ob diese schlüssig, nachvollziehbar und klar kommuniziert werden. Nichts davon kann sich die Politik ans Revers heften.

Trotzdem: Von Bürgerinnen und Bürgern ist zu erwarten, dass sie sich selbst dann in großer Mehrheit vernünftig verhalten, wenn die Politik es anders hält. Andernfalls gerät mehr als nur das Pandemiemanagement ins Rutschen.

Von daher ist zu fragen, was davon zu halten ist, dass ein erheblicher Anteil meinungsstarker Menschen in diesem Land einem ebenfalls erheblichen Teil der Mitbürger zutraut, noch die grundlegendsten Regeln des Miteinanders unter Pandemiebedingungen in den Wind zu schlagen. Muss das Motto "Wer krank ist, bleibt zuhause" tatsächlich behördlich erzwungen werden?

Vor allem aber lässt die aufgeheizte Debatte darüber, ob die Abschaffung der Quarantäne zumutbar ist, wenig Platz für die Tatsache, dass Eigenverantwortung nicht nur eine Option von vielen ist, sondern grundsätzlich ein verfassungsrechtlicher Maßstab. Schließlich müssen Freiheitsbeschränkung wirksam, überprüfbar und zudem das gelindeste Mittel sein, um eine allgemeine Gefahr abzuwenden. Auch die Rechtsordnung geht nicht nur vom vernunftbegabten, sondern vom tatsächlich vernünftigen Menschen aus.