Zum Hauptinhalt springen

Die Logik der Eskalation

Von Thomas Seifert

Leitartikel

Mit der Zeitenwende hat eine neue Ära der Angst begonnen.


Es war zu erwarten: Nach der Explosion auf der Kerch-Brücke, die das von der Russischen Föderation okkupierte ukrainische Territorium der Krim mit Russland verbindet, antwortete der Kreml mit den umfassendsten Luftangriffen auf ukrainische Städte seit Beginn der Invasion vor nunmehr sieben Monaten.

Die Logik des Krieges - falls das Handwerk des Tötens einer Logik folgt - sagt: Schlag-Gegenschlag.

Seit Wochen gelingt es der Ukraine, die russischen Invasoren an Frontabschnitten im Osten und im Südosten des Landes zurückzudrängen, der symbolträchtige Schlag gegen Wladimir Putins Brücken-Prestigeprojekt war nicht nur ein Propagandaerfolg der Ukraine zum 70. Geburtstag des russischen Autokraten, sondern hat auch militärische Bedeutung: Die Ukraine stört seit einigen Monaten erfolgreich die russischen Nachschubwege und zerstört damit Putins Narrativ von der "Spezialoperation".

Die jüngste Eskalation zeigt: Krieg ist (auch) Kommunikation. Mit dem Schlag gegen die Kerch-Brücke untermauert Kiew den Anspruch auf die 2014 von Russland annektierte Krim.

Gleichzeitig wächst mit jeder Drehung an der Eskalationsspirale die Gefahr, dass der Krieg vollends außer Kontrolle gerät. Und darin liegt das Dilemma: Solange Moskaus Soldaten ihre Marschflugkörper auf Ziele in der Ukraine abschießen können, ohne Gegenwehr fürchten zu müssen, sind sie im klaren Vorteil.

Das ist auch einer der Gründe, warum die Ukraine seit einiger Zeit die Lieferung von ATACMS-Raketen fordert, mit denen die Abschussplattformen der russischen Kalibr-Raketen bekämpft werden könnten. Die USA, die diese Waffen produzieren, zögern aber: In Washington fürchtet man, ukrainische Raketenangriffe, die tief ins Hinterland Russlands reichen, könnten in eine direkte Konfrontation zwischen Russland und der Nato münden.

Die perverse "Logik" der gegenseitigen Abschreckung funktioniert so: Würden russische Militärs wirklich zivile Ziele In Lemberg, Kiew, Odessa oder Dnipro bombardieren lassen, wenn sie wüssten, dass sie damit Gegenschläge auf Moskau, Sankt Petersburg, Kursk oder Krasnodar provozieren würden? Ein besser austariertes Gleichgewicht des Schreckens könnte, so ukrainische Strategen, Russland zu größerer Zurückhaltung zwingen.

Gleichzeitig warnte vorigen Donnerstag US-Präsident Joe Biden in Reaktion auf Putins kaum versteckte Drohung mit einem Atomwaffeneinsatz vor einem "nuklearen Armageddon". Vor fast genau 60 Jahren hielt die Kuba-Krise die Welt in Atem: Von 16. bis 29. Oktober 1962 stand die Welt am Rande einer nuklearen Konfrontation. Mit der Zeitenwende hat eine neue Ära der Angst begonnen.