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Denken braucht Zeit

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Nachrichten wie Gerüchte rennen atemlos um den Globus. Das ist brandgefährlich, wie die Raketen auf Polen gezeigt haben.


Geschwindigkeit ist Trumpf. Wer als Erste, als Erster, eine Information besitzt und verbreitet, sie kommentiert und einordnet, gewinnt unschätzbare Vorteile: Auf diese Weise werden inhaltliche Pflöcke eingeschlagen und lassen sich Richtung wie Tonalität von Debatten vorgeben. Wer dagegen zu spät kommt, den bestraft die atemlose Diskurskultur. Auch für Medien, die auf Reichweite und Einfluss schielen, sind das enorme Versuchungen.

Diese Mechanismen sind wohlbekannt, die Digitalisierung wirkt hier zur Potenz. Das ist ein Segen, wenn es um Fakten geht, aber ein Fluch im Falle von Gerüchten und gezielten oder auch unbeabsichtigten Falschinformationen. Das Risiko fataler Fehlschlüsse steigt damit massiv.

Vor diesem Hintergrund haben die Spitzen der Nato in der Nacht auf Mittwoch geradezu mustergültig reagiert, als Alarm-Meldungen über Raketentreffer auf dem Staatsgebiet Polens, eines Mitglieds der Nordatlantik-Allianz, die Welt erschreckten. Obwohl gesicherte Fakten Mangelware waren, galt Russland als tatverdächtig, durchaus befeuert von Polen selbst, aber auch von offizieller ukrainischer Seite.

Ein gezielter Beschuss des Nato-Mitglieds Polens durch Moskau hätte das Bündnis, das Kiew politisch, mit Waffenlieferungen und mit Geheimdienstinformationen unterstützt, direkt in den Krieg hineingezogen. Genau das wollen Nato wie Russland unbedingt verhindern. Die Gefahr einer nuklearen Eskalation wäre real.

Im Laufe des Mittwochs erhärtete sich das Szenario, dass es sich wohl um eine verirrte ukrainische Flugabwehrrakete handelte. Zwar ist Moskaus Invasion dafür verantwortlich, dass es den Einsatz solcher Flugabwehrraketen durch Kiew überhaupt braucht, aber es war eben kein direkter Angriff des Kreml auf Nato-Territorium, die rote Linie in diesem Konflikt auf Distanz zwischen dem Bündnis und der Atommacht.

Die jüngsten Ereignisse haben allen Beteiligten - und der Öffentlichkeit -vor Augen geführt, wie groß die Gefahr ist, dass dieser Krieg zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Atommächten eskaliert; wie wichtig gesicherte Fakten und besonnenes Handeln auf allen Seiten sind; wie leicht bloße Gerüchte zu Forderungen und Taten führen können. Es braucht Zeit, um Fakten zu prüfen, zum Nachdenken, zum klugen und koordinierten Handeln. Die Logik der digitalen Öffentlichkeit befeuert das genaue Gegenteil. Wir können es nicht ändern, wir müssen es uns nur allzeit bewusst machen - und uns dagegen wappnen. Mental und prozedural.