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Immer in Gefahr

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Es ist vielleicht die größte Utopie der Menschheit: dass jeder Mensch über unveräußerliche Rechte verfügt.


Es ist vielleicht die größte Utopie der Menschheit: dass jeder einzelne Mensch über unveräußerliche Rechte verfügt, allen voran Freiheit, Unversehrtheit und Autonomie. Diese Vision scheint dem Menschen immanent zu sein, immerhin reichen die ersten Ansätze dieser Idee weit zurück, bis ins antike Persien und Griechenland. Die jüdische Vorstellung, die später von den Christen aufgenommen wurde, wonach der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen sei, hat die Utopie weiter befeuert.

Österreich, das nur nebenbei, hinkte für einmal nicht hinterher. Ins kollektive Gedächtnis ist das allerdings nicht eingegangen. Wer weiß schon um die bahnbrechende Leistung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs, das 1812 in Kraft getreten ist? Im Paragraf 16 heißt es hier: "Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht wird in diesen Ländern nicht gestattet."

Bis heute ist viel seitdem erreicht worden, viel bleibt allerdings noch zu tun. Der Wohlstand rund um den Globus mag in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsen sein, der liberale Rechtsstaat, einziger verlässlicher Garant der unveräußerlichen Rechtsansprüche, befindet sich an vielen Ecken und Enden der Welt dennoch in einem Rückzugsgefecht. In erster Linie sorgen dafür Kriege, offene und verdeckte, sowie autoritäre Regime und Diktaturen, weltliche und theologische, die auf ihrem Machtanspruch auch gegen den Willen ihrer Bürger beharren.

Westliche Selbstzufriedenheit ist nicht angebracht. Zum einen zeigen die letzten Jahre, dass auch mit demokratischen Mitteln Druck auf die liberalen Rechte von Einzelnen und Minderheiten ausgeübt werden kann. Zum anderen vermögen die Krisen und Kriege in anderen Regionen, Flüchtlings- und Migrationsbewegungen auszulösen, deren Management durch den Westen schnell menschenrechtliche Prinzipien und Praxis auf Kollisionskurs schickt. Dieser Kritik müssen sich EU, USA und etliche andere stellen, die verlässlich anfällig für ein gewisses moralisches Überlegenheitsgefühl sind.

Misstrauen, zumindest gesunde Skepsis, selbst gegenüber dem Erreichten bleibt Pflicht. Adornos Schlüsselwerk für die Philosophie des 20. Jahrhunderts, seine "Negative Dialektik", gilt unvermindert auch für das 21. Jahrhundert: "Moralische Sicherheit existiert nicht. Sie unterstellen wäre schon unmoralisch, falsche Entlastung des Individuums von dem, was irgend Sittlichkeit heißen dürfte."