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Zumutungen für Frieden

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Nato-Beitritt gegen Gebietsverlust: Ein 99-Jähriger redet, worüber die Kriegsgegner noch nicht können.


Man muss vielleicht 99 Jahre alt sein, ein Weiser der internationalen Politik, Friedensnobelpreisträger und - soweit überhaupt möglich - immunisiert gegen die Wut und Frustration, um elf Monate nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs über die Möglichkeiten einer Beendigung des Tötens zu reden. Und selbst dann erweist sich dieses Unterfangen alles andere als leicht.

Das hat nun Henry Kissinger erfahren, der 99-jährige Friedensnobelpreisträger (auf dessen Weste, wie könnte es anders sein nach einem Leben im Herzen der Macht, sich auch schmutzige Flecken finden). In einem Videogespräch in Davos skizzierte der ehemalige Sicherheitsberater und Außenminister der USA, wie ein Friede aussehen könnte: Akzeptanz von Gebietsverlusten durch die Ukraine und Hinnahme einer Nato-Mitgliedschaft seitens des Kreml. Eine Neutralität der Ukraine, wie Kissinger sie zuvor vertreten hatte, sei in der neuen Lage nicht mehr sinnvoll, meinte er.

Beide Bedingungen erscheinen heute noch illusionär, weil weder für die ukrainischen noch für die russischen Regierenden hinnehmbar. Präsident Wolodymyr Selenskyj pocht auf die Rückeroberung beziehungsweise den Rückzug aus allen Teilen der Ukraine - die bereits 2014 annektierte Halbinsel Krim inklusive. Und Kreml-Herr Wladimir Putin hat diesen Krieg unter anderem begonnen, um einen Nato-Beitritt der Ukraine zu verhindern.

Ein Friede - wohl eher: ein neuer Kalter Krieg - mit Russland ist nicht in Sicht, und Kissingers Vorstellungen dazu sind nur der Wortbeitrag eines 99-jährigen Vollblutpolitikers. In der Realität rüsten die westlichen Verbündeten die Ukraine immer stärker mit modernsten und schlagkräftigen Waffen aus, die den militärischen Druck auf Moskau erhöhen; der Kreml dagegen stellt seine Wirtschaft und seine Armeen (es sind tatsächlich mehr als nur eine) auf eine lange Schlacht ein und eskaliert den Krieg der Worte, wenn er, wie am Mittwoch Außenminister Sergej Lawrow, dem Westen einen Vernichtungskrieg gegen Russland vorwirft. Auf der anderen Seite beschwört der Westen die bedingungslose Solidarität mit der Ukraine in ihrem Widerstand gegen den Aggressor.

Als Kissinger vor einigen Monaten erstmals Überlegungen für einen Frieden samt Neutralität für die Ukraine ventilierte, erntete er wüste Zurückweisung. Jetzt, da ein Nato-Beitritt das Kernstück mit schmerzhaften Gebietskonzessionen bildet, reagiert die offizielle Ukraine erstmals abwartend. Sicherheit in den Reihen des Westens ist das zentrale Ziel Kiews. Ein solcher Friede würde auch dem Westen viel abverlangen.