Mehr als 50.000 Tote könnte die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und in Syrien am Ende, wenn denn alle Leichen aus den Trümmerhaufen geborgen worden sind, gefordert haben, das befürchtet jedenfalls die UNO. Eine erschreckend große Zahl. Und längst hat sich bei vielen vom Unglück betroffenen Menschen in der Türkei der Schock über das Unglück und die Trauer über die verlorenen Freunde und Verwandten in Wut über die Unzulänglichkeiten ihres Staats und ihrer politischen Führung gewandelt.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der seit 20 Jahren sein Land mit immer härterer Hand führt, hat vor dem Beben die eigentlich für Juni anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf den 14. Mai vorgezogen. Seit Monaten kursieren Spekulationen, dass Erdogan nach einem Vorwand Ausschau halten könnte, die Wahlen nach hinten zu verschieben. Für ihn und seine Familie steht viel, eigentlich fast alles auf dem Spiel: Verliert er die Wahlen, drohen ihm und den engsten Verwandten nicht nur der Verlust der Macht, sondern womöglich auch ein Prozess, der dubiose Machenschaften der vergangenen Jahre kritisch unter die Lupe nimmt - und am Ende womöglich Gefängnis. Die Zahl der ehemaligen Staatschefs, die unter neuen Machtverhältnissen vor Gericht landen, wächst schließlich stetig. Voraussetzung dafür, dass die Wahlen überhaupt stattfinden, so wird gemunkelt, sei daher, dass Erdogan selbst überzeugt sei, am Ende auch zu gewinnen.

Das wäre auch vor dem Erdbeben, den zehntausenden Toten und der grassierenden Kritik am ungenügenden Krisenmanagement eine Herausforderung gewesen. Seit Jahren durchwandert das Land am Bosporus nämlich ein Tal der Tränen: Die Teuerung von bis zu 80 Prozent treibt den Mittelstand in den Ruin, die Pandemie hat den Tourismus als wichtigste Branche des Landes hart getroffen; die Millionen syrischer Flüchtlinge im Land sind zur Belastung geworden; hinzu kommen die wiederholten Säuberungswellen gegen Anhänger der Gülen-Bewegung, die Erdogan eines Putschversuchs bezichtigt. Das alles, und noch einiges mehr zusammengenommen, machen das Land nicht wirklich für ausländische Investitionen attraktiver.

Zu diesen Schwierigkeiten für Erdogans politisches Machtregime kommt nun die Erdbebenkatastrophe hinzu. Sie und ihr Krisenmanagement werden den Wahlkampf dominieren, der Unzufriedenheit mit dem Regierungsapparat der AKP neue Wucht und Dynamik verleihen. Jetzt wird es darum gehen, andere Verantwortliche für die ungeheure Zahl an Toten zu finden. Offensichtlich ist, dass tausende Gebäude wie Kartenhäuser aus Pappkarton zusammengebrochen sind, weil sich niemand um die Einhaltung der Bauvorschriften in dem chronisch von Erdbeben heimgesuchten Gebiet gekümmert hat. Weder die Baumeister noch die Behörden.

Für das Regime ist klar, wer die Hauptschuld trägt: Noch am Wochenende sollen 113 Haftbefehle gegen insgesamt 131 ins Visier geratene Bauunternehmer ausgegeben worden sein, berichtet Erdogans Vizepräsident. Er weiß, wie viel auf dem Spiel steht. Die Wut des Volkes und der verbliebenen kritischen Medien verlangt nach Schuldigen, die möglichst weit weg von den Mächtigen und ihren Vasallen zu finden sind.

Sollte das nicht ausreichen, wird Erdogan danach trachten, die Wahlen im Mai abzusagen. Die Macht dazu hat er – und die willigen Helfer sowieso. Das wird die Unzufriedenheit im Land nicht besänftigen, vielleicht sogar eher noch weiter befeuern. Das Land, das an einer geopolitischen Schlüsselstelle zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd, zwischen der islamischen Welt des Nahen Ostens und Zentralasiens auf der einen und der EU auf der anderen Seite steht, das als Nato-Mitglied ein Brückenkopf ist, der an Syrien, Irak, Iran sowie den Kaukasus grenzt und Russland am Schwarzen Meer gegenübersteht: Dieses Land hat entscheidende Monate vor sich.

Mit Stabilität ist, auf absehbare Zeit eher nicht zu rechnen.