Karl Nehammer ist seit bald 15 Monaten Krisenkanzler der Republik und faktisch ebenso lange Krisenobmann der ÖVP, der in Mandaten, Funktionen und Macht nach wie vor mit Abstand stärksten Kraft in Österreich. Ob der 50-jährige ehemalige Innenminister und Parteimanager jenseits des unmittelbaren Krisenmanagements einen inhaltlichen Gestaltungswillen besitzt, und wenn, in welchen Bereichen und in welche Richtung, ist bis zum heutigen Tag ein von ihm selbst wie seinem Team gut gehütetes Geheimnis.

Walter Hämmerle. 
- © Luiza Puiu

Walter Hämmerle.

- © Luiza Puiu

Damit soll nun Schluss sein. Am Sonntag hat Nehammer für den 10. März eine "Rede zur Zukunft der Lage der Nation" angekündigt. In einer trendy Location mit Blick über ganz Wien will er seine Vision für "Österreich 2030" darlegen. Ein Plan mit diesem Namen, den er zu beauftragen gedenkt, will "Antworten auf viele Fragen geben, wie und wohin sich unser Land entwickeln soll".

Das ist zwar holprig formuliert, trotzdem ist eine solche programmatische Orientierungshilfe für die Wählerinnen und Wähler hoch an der Zeit. Erstens, weil die zahlreichen Krisen seit 2020 – von der Pandemie über den Ukraine-Krieg bis hin zu rasanter Teuerung, explodierenden Energiekosten, und dem Arbeitskräftemangel – eine neue Wirklichkeit geschaffen haben; zweitens, weil die aktuelle ÖVP mit jener des Herbst 2019, bei der die Partei mit Sebastian Kurz an der Spitze einen überwältigenden Wählerauftrag bekommen hat, maximal noch den Namen und die Mandatszahl gemeinsam hat; und, drittens, nicht nur der ÖVP, sondern auch Nehammer persönlich die direkte demokratische Legitimation eines Wählerauftrags fehlt, verdankt er seinen Aufstieg zum Kanzler doch den innerparteilichen Turbulenzen in der ÖVP nach dem Rücktritt von Kurz im Spätherbst 2021.

Wer in den zurückliegenden 15 Monaten bei Nehammer und seiner Partei nach einem inhaltlichen Roten Faden sucht, findet: Nichts. Also jedenfalls nichts, was über die unmittelbaren Ziele des politischen Krisenmanagements sowie des eigenen politischen Überlebenskampfs hinauszeigt. Wer das allein Nehammer und dessen Team in Partei und Regierung ankreidet, erkennt nicht das Ausmaß an programmatischer Orientierungslosigkeit, welche die ÖVP schon unter Kurz und dann noch mehr nach dessen Sturz erfasst hat. Wer das nicht glaubt, muss sich nur in Erinnerung rufen, dass die mit Abstand stärkste und wichtigste Landespartei, eben jene in Niederösterreich, gerade erst versucht hat, eine historische Niederlage abzuwehren, indem sie praktisch keinerlei inhaltliches Zukunftsprogramm den Wählern präsentierte. Stattdessen war man überzeugt, die Warnung vor dem eigenen Machtverlust würde ausreichen, die absolute Macht zu behalten. Dieser Plan ist bekanntlich nicht aufgegangen. (Abgesehen davon ist das NÖ-Wahlergebnis der Einzug demokratiepolitischer Normalität.)

Es wird schwer werden, auf den programmatischen Ruinen der Gegenwart wieder ein inhaltlich überzeugendes und vor allem glaubwürdiges Profil für die ÖVP zu erarbeiten. Das Vertrauen gegenüber der Politik im Allgemeinen und der ÖVP im Besonderen ist im Keller, es fehlen Persönlichkeiten mit Authentizität, Ausstrahlung und Kompetenz an allen Ecken und Enden.

Dieser Mangel ist, auch wenn es paradox ist, Nehammers persönlich größte Chance. Weil er als Kanzler die Bühne und Mittel besitzt, um Politik zu kommunizieren und zu gestalten. Und dann muss er noch hoffen, dass ihm die derzeitige SPÖ-Vorsitzende als Gegner erhalten bleibt.