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Nur eine Atempause

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Möglich, dass die Proteste die Pläne von Israels Koalition stoppen. Aber wohl kaum auf Dauer.


Israel geht durch dramatische Tage. Die einzige Demokratie im von Autokraten und Diktaturen dominierten Nahen Osten erlebt einen beispiellosen Kampf um ihre politische Identität. Der schon lange schwelende Konflikt eskalierte rund um die von der Regierung aus rechten, rechtsextremen und religiösen Parteien mit aller Macht vorangetriebenen Justizreform. Der säkulare und liberale Teil Israels sieht darin den unzulässigen Versuch, die Justiz samt Höchstgerichten dem Willen der parlamentarischen Mehrheit zu unterwerfen.

"Um der Einheit des israelischen Volkes willen, um der Verantwortung willen, fordere ich Sie auf, die Gesetzgebung sofort einzustellen" - mit diesen dramatischen Worten pochte angesichts der Massenproteste Staatspräsident Yitzhak Herzog auf ein Einlenken. Nachdem er am Sonntag noch seinen Verteidigungsminister entlassen hatte, weil dieser das Festhalten an der Justizreform als Gefahr für die nationale Sicherheit bezeichnet hatte, dürfte Premier Benjamin Netanjahu nun wohl zurückstecken. Nicht ausgeschlossen, dass dieser Schritt seine fragile Regierung zu Fall bringt. Für die rechten und religiösen Parteien ist die Einhegung, ja Majorisierung der traditionell liberalen Justiz eine Fahnenfrage; allerdings haben sie ohne Netanjahu keine Option auf eine eigene Mehrheit.

Im Kern dreht sich der Konflikt um die Rückkopplung von demokratischen Mehrheiten und unabhängiger Justiz, deren neuralgischer Punkt verlässlich die Ernennung von Richtern, vor allem aber die Besetzung der Höchstgerichte ist. Darin steckt Sprengstoff für jede Demokratie; man denke nur an das epische Ringen um den Supreme Court in den USA. In Österreich wurden die Richter am Verfassungsgerichtshof lange Zeit allein von ÖVP und SPÖ nominiert, erst seit kurzem kommen auch FPÖ und Grüne zum Zug.

In Israel sitzt die Politik derzeit bei Ernennungen am kürzeren Hebel. Ein Nominierungsprozedere wie in Österreich wäre wohl genau das, was die Regierung in Israel gerne hätte. Doch solche Vergleiche hinken. Entscheidend ist, dass die politische Kultur und der institutionelle Rahmen die Unabhängigkeit der Höchstgerichte nicht nur ermöglichen, sondern auch gegen Druck verteidigen. Die Garantie dafür liefert langfristig allein der politische Konsens - und der ist in der umkämpften Parteipolitik in Israel derzeit nicht zu haben.

Möglich, dass Premier Netanjahu nun zurücksteckt; möglich, dass seine radikale Koalition darüber zerbricht. Sicher ist, dass dieser Machtkampf weitergehen wird, so lange sich kein breiter Konsens für eine allseits akzeptierte Reform findet.