Zum Hauptinhalt springen

Putin braucht den Krieg

Von Ronald Schönhuber

Leitartikel

Russlands Armee kann kein Kriegsgerät mehr für Paraden entbehren. Für den Krieg heißt das nicht viel.


Nichts ist für Wladimir Putins Russland wichtiger als die Parade auf dem Roten Platz. Der am 9. Mai gefeierte Sieg über Nazi-Deutschland ist für viele Russen und Russinnen nach wie vor die zentrale Erzählung ihres Staates, das Selbstverständnis als Überwinder des Faschismus nährt seit Sowjet-Zeiten das kollektive Bewusstsein.

Gleichzeitig war der Rote Platz jener Ort, an dem Russland nach den Wirren der 1990er Jahre seine wiedererwachte Stärke zeigen konnte. Das massenhafte Defilee von Panzern, Geschützen und Raketen wurde in Putins 23-jähriger Herrschaft zum Akt der patrotischen Selbstvergewisserung und zum Ausweis dafür, dass Russland als Machtfaktor wieder zurück auf der Weltbühne war.

Davon, dass Russland am 9. Mai seine Stärke zeigt, ist heute keine Rede mehr. Zwar marschierten auch bei der diesjährigen Parade tausende herausgeputzte Soldaten im Stechschritt durch Moskau, doch schon bei den an den Tribünen vorbeiziehenden Fahrzeugen wurde offensichtlich, dass die russische Armee infolge des Überfalls auf die Ukraine kein Kriegsgerät für pompöse Aufmärsche entbehren kann. Nahmen 2021 noch mehr als 200 Fahrzeuge an der Parade teil, so sind es diesmal nur knapp 50 gewesen. Als einziger Panzer fuhr dabei ein T-34 über den Roten Platz - jener Typ, der auch schon 1945 beim Sturm auf Berlin dabei war.

Dass die russische Armee, die in der Ukraine mittlerweile mehr als 10.000 Fahrzeuge verloren hat, immer offensichtlicher an ihre Kapazitätsgrenzen stößt, bedeutet für den Krieg allerdings nicht allzu viel. Denn im Gegensatz zur Hoffnung in vielen westlichen Regierungskanzleien, die oft nach wie vor darauf bauen, dass der Kriegsherr im Kreml irgendwann zur Einsicht kommen wird, wenn die militärischen Kosten seines Feldzugs den Nutzen massiv übersteigen, kann Putin mit einem schlecht verlaufenden Krieg wohl besser leben als mit einem nicht ausschließlich von Russland diktierten Frieden.

So ist der Präsident infolge des Krieges endgültig zum alleinigen und unhinterfragbaren Machtzentrum des Landes geworden. Im heutigen Russland, das vor allem von Putin selbst geschaffene Abhängigkeiten prägen, fällt dem Oberbefehlshaber in Krisenzeiten niemand in der Rücken - das gilt sowohl für Putins engstes Umfeld wie auch für die Bevölkerung, für die Zensur, Verhaftungswellen und die Angst vor der nächsten Mobilisierungswelle mittlerweile zum Alltag gehört. Und Putin kann im Gegensatz zu anderen Politikern auf Zeit spielen. Denn schon mit der US-Wahl 2024 könnte die westliche Unterstützung für die Ukraine bröckeln.