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Unzumutbares Europa

Von Judith Belfkih

Leitartikel

Um in Asylfragen zu Lösungen zu kommen, muss die EU Migration neu denken.


Im Mittelmeer ertrinken Menschen, weil ihre letzte Hoffnung aus überfüllten Booten besteht. Andere ersticken in Kühllastern oder werden in Auffanglagern unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten. Jene, die es in die Festung Europa schaffen, warten mitunter Jahre auf einen Asylbescheid und werden dann - oft gut integriert - abgeschoben in eine für die betroffenen Kinder meist fremde Heimat. Südliche Mitgliedstaaten der EU ächzen unter dem Schutz der Außengrenzen, Populisten drohen mit dem Öffnen von Schleusen für Flüchtlingsströme.

Europa hat ein massives Asylproblem, das bestreitet niemand. Die Situation ist unzumutbar geworden, die Union erpressbar. Unzumutbar ist der Status quo für die Flüchtenden, die ihr Leben für einen fragwürdigen Traum riskieren; aber auch für die Staatengemeinschaft selbst, deren Konzept von offenen Grenzen auf dem Prüfstand steht. Erweisen sich die aktuell in Arbeit befindlichen Lösungen nicht als tragfähig, gerät mit Schengen das ganze Projekt Europa ins Wanken.

Auch wenn schon im Vorfeld des Asylgipfels von einem "historischen Durchbruch" die Rede war, darf dessen Erfolg grundsätzlich bezweifelt werden - wegen seiner Lösungsansätze. Freilich haben sie alle im Sinn, Druck von den Grenzen zu nehmen, Verfahren fairer und schneller zu gestalten, Lasten besser zu verteilen und mit dem Schließen von gefährlichen Routen Menschenleben zu retten. Aber bloß mit Verteilquoten, Asylstellen in Drittstaaten und Prämien, mit denen Staaten sich von der Aufnahme Geflüchteter freikaufen können, wird das Problem nicht zu lösen sein. Denn zur Asylkrise beschäftigt Europa eine Wirtschaftskrise inklusive Fachkräftemangel, der sich durch eine alternde Gesellschaft noch verschärfen wird.

Um hier entgegenzuwirken, braucht es klar geregelte, strategische Zuwanderung. Präziser zu definieren, welche Qualifikationen Europa dringend braucht, und Menschen entsprechende legale Migrationswege zu öffnen, würde Asylverfahren entlasten, Mischformen von Asyl und Migration minimieren und Flüchtenden eine klare Perspektive aufzeigen.

Für eine strikte Trennung von Asyl und Migration sprach sich zuletzt erneut Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) aus. Auch wenn es paradox klingen mag: Nur ein gemeinsames Denken der Ursachen und Mechanismen der Themen Migration und Asyl, nur ein dadurch mögliches Aufdröseln der vielen komplexen Verflechtungen dieser Bereiche wird es überhaupt erst möglich machen, sie künftig getrennt zu betrachten - mit dem Ziel, das sinnlose Sterben auf der Flucht zu beenden, Europas Arbeitsmarkt demografisch abzusichern und Menschen in Not das ihnen zustehende Asyl zu gewähren.