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Kleingeld mit Opfern

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
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Sogar der menschliche Wahnsinn hat eine eminent politische Dimension. Das ist natürlich keine neue Erkenntnis, aber der Fall Mohamed Merahs, seiner Opfer und seines Todes, macht dies wieder einmal besonders deutlich.

Merah war ein französischer Bürger algerischer Herkunft, ein 23-jähriger Moslem, der sich offenbar innerhalb weniger Jahre vom Kleinkriminellen zum fanatisierten Glaubenskrieger im Dienste einer islamistischen Terrororganisation wandelte. Seine insgesamt sieben Opfer, die er mit ruhiger Hand und kaltem Herzen aus nächster Nähe ermordete, waren vier Juden, drei Kinder und ein Rabbi, sowie drei Soldaten, die - wie Merah selbst - aus Nordafrika stammten.

Die Attentate platzten mitten in den leidenschaftlich geführten französischen Präsidentschaftswahlkampf. Es liegt in der Natur des Amtes, dass sich in den Stunden der Tragödie alle Augen auf Staatspräsident Nicolas Sarkozy richten. An ihm ist es sicherzustellen, dass sich die Nation ihrer selbst vergewissert - mit Trost, Pathos und einigem Aktionismus. Den Mitbewerbern bleiben nur Nebenrollen. Die Umfragen zeichnen bereits ein deutliches, wenngleich noch nicht abgeschlossenes Bild der politischen Gewinner und Verlierer dieser Tat.

Wäre Merah kein Islamist gewesen, sondern ein weißer Bürger Frankreichs, ein Rechtsextremist wie der Norweger Anders Behring Breivik, die politische Gewinn-und-Verlust-Rechnung der Attentate würde genau umgekehrt aussehen.

Man kann dieses Spiel um politisches Kleingeld ruhigen Gewissens erbärmlich finden; die Familien der Opfer wird der Hinweis von Wahlkämpfern, der Mörder ihrer Angehörigen komme wenigstens aus einem ideologisch schlüssigen Eck, kaum trösten. Sie werden damit nur noch ein weiteres Mal instrumentalisiert - nach dem Täter nun durch die Politik.

Individuellen Amokläufern, die einem Wahn - und sei er auch weltanschaulich verbrämt - verfallen sind, ist eine Gesellschaft weitgehend hilflos ausgeliefert. Anders ist dies bei ideologisch motiviertem Terror, egal, aus welcher Ecke dieser stammt. Dessen Netzwerke lassen sich überwachen, unterwandern und bekämpfen. Der Preis, der hierfür politisch zu entrichten ist, ist allerdings beträchtlich. Denn Freiheitsräume zu bewahren, bedeutet zwingend, sich die eigene Verletzbarkeit - als Mensch und Gemeinschaft -einzugestehen und sie zu akzeptieren.