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Der große Polarisierer

Von Thomas Seifert

Leitartikel

Prognosen sind bekanntlich schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen - dieser weise Satz wird abwechselnd Karl Valentin, Mark Twain, Winston Churchill oder Niels Bohr zugeschrieben. Um vorauszusagen, dass 2014 ein schwieriges Jahr für den türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan wird, braucht es keinen prophetischen Nostradamus. Die Märkte haben bereits reagiert, die Börse in Istanbul erlebt seit den Massenrücktritten von zehn Ministern nach Korruptionsenthüllungen eine rapide Talfahrt.

Erdogan, der geniale Mechaniker der Macht, hat seine besten Zeiten hinter sich.

Er hat die Macht der Militärs gebrochen, hat dem Land mehr Demokratie und den Kurden mehr Rechte gebracht, hat anfangs - obwohl er von der eher anti-westlichen politischen Strömung des türkischen Islamismus geprägt ist - gute Beziehungen mit der Europäischen Union und den USA gesucht und der Türkei eine lange Phase der Normalisierung und des wirtschaftlichen Aufstiegs beschert. Seit dem Jahr 2000 ist die Wirtschaft jährlich um rund 5 Prozent gewachsen, rund 100 Milliarden Dollar an Investitionen sind ins Land geströmt. Die Türkei sollte nach dem Willen Erdogans eine führende Regionalmacht werden, so mächtig wie seit der Epoche des Osmanischen Reiches nicht mehr.

Doch die Phase rasanten ökonomischen Aufschwungs, politischer Normalisierung und gesellschaftlicher Stabilität ist vorbei. Das Wachstum für 2013 beträgt keine 5, sondern nur noch 3,5 Prozent, die Beziehungen zu Europa und den USA sind heute empfindlich gestört, zu Israel geradezu frostig.

Und Erdogan ist zum großen Polarisierer geworden, der längst nach der Devise regiert: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Im Mai gingen die jungen Vertreter des Neo-Bürgertums gegen die Zerstörung der Stadt Istanbul durch Immobilienspekulation auf die Straße - Erdogan ließ die Gezi-Park-Demonstranten niederknüppeln.

Kritische Journalisten werden drangsaliert, die jüngsten Enthüllungen über Korruption in Erdogans Partei AKP sind in seinen Augen von fremden Mächten gesteuert. Der Premier wirkt zunehmend autoritär und zuletzt geradezu paranoid. Kommendes Jahr sind Präsidentenwahlen. Erdogan will die Verfassung zu einer Präsidialdemokratie umbauen und in den Çankaya Palast einziehen. Die Türkei sieht 2014 einem turbulenten Jahr entgegen.