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Gaucks Predigt, Davoser Ethik

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
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Verkehrte Welten: Am gleichen Tag, an dem ausgerechnet das World Economic Forum in Davos, vor noch nicht allzu langer Zeit das verhasste Feindbild aller linken Globalisierungskritiker, in einer Studie die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich als größte Gefahr für die Welt identifizierte, hob der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck zu einer Lobrede auf die Marktwirtschaft im Allgemeinen und Wettbewerb als eine auch gesellschaftspolitisch ordnende Kraft im Besonderen an. "Auch gutgemeinte Eingriffe des Staates können dazu führen, dass Menschen aus- statt eingeschlossen werden", schrieb der evangelische Pastor aus der DDR seinen gesamtdeutschen Mitbürgern bei einer Festrede ins Stammbuch. Und er, Gauck, finde es "merkwürdig", dass der Begriff neoliberal heute so negativ "besetzt" sei.

Allein mit diesem letzten Satz beweist das deutsche Staatsoberhaupt einen erfrischenden Mut, zumindest rhetorisch gegen den Strom der Zeit zu schwimmen (dass Gauck die Festrede für ein Institut hielt, das dem ordoliberalen Ökonomen Walter Eucken gewidmet ist, relativiert diesen Mut freilich ein klein wenig). In der Regel verschwimmen nämlich die Kräfte der politischen Mitte unter einem schwammigen Einheitsbrei inhaltsleerer Allgemeinplätze, die den jeweils populärsten Standpunkt vertreten.

Faktisch haben beide Standpunkte, die populäre Warnung der Davoser vor der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich und die unbequeme Mahnung vor einem Übermaß an staatlichen Eingriffen, belastbare Argumente auf ihrer Seite. Eine vernünftige Debatte über effiziente Wege, Exzesse von falsch oder unzulänglich regulierten Märkten zu korrigieren, ist jedoch praktisch unmöglich. Und dies zumeist nur deshalb, weil es den Akteuren vorrangig um die politische Lufthoheit der Diskussion geht.

Standpunkte werden deshalb auch dann eisern weiter verfolgt, wenn sie erkennbar mit der Wirklichkeit auf Crashkurs liegen.

Das ist kein Appell, die Suche nach politischen Lösungen für gesellschaftspolitische Probleme ideologiefreien Technokraten zu überlassen. Ein fruchtbares Streiten von Konservativen, Linken, Ordoliberalen und Ökos aller Schattierungen hat jedoch zur Voraussetzung, dass ein Mindestmaß an intellektueller Redlichkeit auf allen Seiten besteht. Doch davon kann in den allermeisten Fällen keine Rede sein.