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Dylan zur rechten Zeit

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
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In einem Moment, in dem die Welt aus den Fugen ist, wo Staaten zerfallen, alte Gewissheiten zerbröseln und neue noch nicht erkennbar sind, Wahrheit und Märchen austauschbar erscheinen, ausgerechnet in so einem Moment entscheidet sich die Schwedische Akademie, Bob Dylan mit dem Literaturnobelpreis auszuzeichnen.

Literaturkritiker mögen darüber die Nase rümpfen, das Gros der Tiefenverunsicherten in Europa und den USA - also vornehmlich weiße Männer im fortgeschrittenen Alter und mit gesichertem Auskommen - zeigt sich aufrecht begeistert, ja enthusiasmiert. Frauen stehen dem popkulturellen Phänomen Dylan, seinen Songs und seiner bestechenden Kunst der kreativen Zerstörung seiner eigenen Werke dagegen häufig eher ratlos und teilnahmslos gegenüber. Man kann es unmöglich allen recht machen.

Der, wie es am Donnerstag aus Stockholm hieß, vielleicht "größte lebende Poet" unserer Zeit gab tatsächlich seiner und der einen oder anderen weiteren Generation eine Stimme. Allerdings eine zutiefst unberechenbare und ständig wechselnde. Der 75-jährige US-Künstler ist bis heute ein rastloser Wanderer und Suchender. Das hat er mit den meisten seiner Jünger gemein. Und bis heute verweigert er sich politischen Festlegungen und Vereinnahmungen. An Denkmälern zu rütteln, Traditionen niederzureißen, nur um anschließend der Vergangenheit und etablierten Autoritäten wieder seine Reverenz zu erweisen:

Dylan verkörpert den für den Westen typischen Individualismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Sehnsucht nach alten Geborgenheiten zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Am Höhepunkt der Friedensklampfen greift Dylan zur Stromgitarre, als die Suche nach Gott längst außer Mode ist, sucht er erst im Christentum, dann bei seinen jüdischen Wurzeln nach Lebenssinn. Nicht einmal vor einer Weihnachtsplatte und einem TV-Werbespot für den US-Autokonzern Chrysler (in der Halbzeitpause zur Super-Bowl!) schreckt der Held einer tendenziell antikapitalistischen eingestellten Anhängerschar zurück. Da verwundert es nicht, dass er auch schon für den Papst (Johannes Paul II.) gespielt hat und der bei vielen als reaktionär verschrieenen Country-Musik seine Ehrerbietung erweist. Daraus soll einer schlau werden?

Eine bessere Wahl hätte die Schwedische Akademie für diese Zeiten nicht treffen können. Zumindest nicht für uns Verunsicherte im Westen.