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Europas Resilienz

Von Reinhard Göweil

Leitartikel
Chefredakteur Reinhard Göweil.

Risikoreiche Neuwahlen in Großbritannien, Schicksalswahlen in Frankreich, eine politisch tief gespaltene Türkei, ein feindseliges Russland, ein Isolationist im Weißen Haus in Washington, ein verrücktes Regime in Nordkorea. Dass die Wachstumsaussichten in Europa trotz dieses Umfelds so günstig sind wie seit Jahren nicht, grenzt eigentlich an ein Wunder.

Aber es zeigt, dass der "Alte Kontinent" jünger und agiler ist, als selbst Europäer vermuten. Das Schlagwort "Eurosklerose" der 1980er Jahre machte bereits wieder die Runde.

Doch Europas Resilienz ist größer als gedacht, vielleicht weil der Kontinent im Umgang mit Krisen auf reichlich Erfahrung zurückblicken kann.

Für die französischen Wahlen müsste das eigentlich bedeuten, dass die Chancen von Marine Le Pen für die französische Präsidentschaft gesunken sind.

Der Brexit brachte den Briten wirtschaftlich enorme Zores. Die Türkei ist, auch wenn sich Präsident Erdogan nun aufplustert, ein wirtschaftlicher Sanierungsfall. Russland steckt in einer Rezession fest, aus der sich das Land nur mühsam herauskämpft.

In der EU dagegen sinkt die Arbeitslosigkeit, das Wachstum erreicht wieder Werte nahe zwei Prozent, und auch die Inflation steigt langsam. Die EZB kann wenigstens darüber nachdenken, wie sie das massive Anleihekaufprogramm zurückfahren will und wann sie die Zinsen erhöht. Das alles wohl erst 2018, aber es hört sich wenigstens wieder normal an.

Nun stellt es das große Problem der EU dar, dass niemand dafür geschätzt wird, weil etwas nicht passiert. Es wäre aber angesagt.

Natürlich verwenden Politiker den Satz, dass die EU wirtschaftliche Vorteile bringt. Aber da es eine Talfahrt wie in der Türkei und Russland nicht gegeben hat, weiß niemand, wie sich das angefühlt hätte. Folgerichtig wird der Satz vollständig ignoriert und von Rechtspopulisten gerne als Zweckoptimismus verunglimpft.

Zu Unrecht, denn der Satz stimmt. Ohne die schützende Glocke der Europäischen Union würden Europas Nationalstaaten arm ausschauen. Sogar das dann immer noch reiche Deutschland hätte ein gewaltiges Problem mit vielen unbezahlten Rechnungen. Wenn also die Welt durchzudrehen scheint, ist es ganz gut, im vergleichsweise faden Europa leben zu können.