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Das Abendrot des 1. Mai

Von Thomas Seifert

Leitartikel

Am 1. Mai wurden die roten Fahnen wie jedes Jahr aus den SPÖ-Sektionsstuben geholt, und die Genossen marschierten auf. In Wien wird am Tag der Arbeit am Rathausplatz das sozialdemokratische Hochamt zelebriert. Der 1. Mai 2017 war aber nicht gerade ein Fest für die SPÖ. Zwar bei weitem nicht so schlimm wie 2016, als Buhrufe und Pfiffe vom baldigen Ende der politischen Karriere des damaligen SPÖ-Chefs und Kanzlers Werner Faymann kündeten, aber zum Feiern war den Genossen nicht zumute. Die Grabenkämpfe zwischen Faymann-Getreuen und Rathaus-Lager hatten in den Tagen davor die Stimmung getrübt. SPÖ-Chef Christian Kern musste die Genossen daran erinnern, dass der politische Gegner nicht in der Partei selbst zu finden sei.

Immerhin - mit Kern hat die SPÖ einen Hoffnungsträger, ähnlich wie die SPD mit Martin Schulz. Der Praxistest - sprich: gewonnene Wahlen - steht bei beiden freilich noch aus. Aber zumindest die vollständige Marginalisierung wie zuletzt in den Niederlanden oder in Frankreich und vermutlich am 8. Juni in Großbritannien braucht die SPÖ vorerst im Bund nicht zu fürchten. Dennoch: Mitte-Links ist in ganz Europa in einer existenziellen Krise. Das Problem: Das Stamm-milieu der Sozialdemokratie - die Arbeiterschaft - stirbt aufgrund der Deindustrialisierung des Kontinents allmählich aus. Und die sozialdemokratischen Wähler in Europa haben es ihren Parteien nicht verziehen, dass sie den Folgen zuerst der Globalisierung und dann der Finanzkrise schutzlos ausgeliefert wurden. Außerdem spüren die Menschen instinktiv, dass die nächste Welle der Automatisierung ganze Industrien und Arbeitsfelder umkrempeln wird. Was wird aus zigtausenden Berufskraftfahrern, wenn Autos und Lkw eines Tages autonom fahren? Was wird aus dem Heer von Bürofachkräften, wenn künstliche Intelligenz in Softwarelösungen Standard ist und Spracherkennung das Verfassen von Bürokorrespondenz obsolet macht? Was wird das für eine Zukunft, "behütet von Maschinen voller Anmut und Liebe", wie es in einem Gedicht des US-Poeten Richard Brautigan aus dem Jahr 1967 heißt?

Die Krise der Sozialdemokratie ist also nicht nur ein temporäres Formtief, sondern hat mit den tiefgreifenden Wandlungsprozessen der Gegenwart und der Verunsicherung einer Gesellschaft zu tun, die am liebsten in die Retroutopie, wie sie rechte Demagogen versprechen, flüchten würde.