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Gerechtigkeit, die sie meinen

Von Thomas Seifert

Leitartikel
Thomas Seifert.

Die erste Skizze des ÖVP-Wahlprogramms, die Spitzenkandidat Sebastian Kurz am Freitag vorstellte, ist durchaus unkonventionell. Und damit sind nicht die Gassenhauer-Forderungen - Steuersenkung, Deregulierung und Entbürokratisierung - gemeint. Die sind, wenn sie vom Chef einer Partei, die den Finanz- und Wirtschaftsminister sowie sechs der neun Landeshauptleute stellt, durchaus keck. Aber dass das Substantiv "Gerechtigkeit" offenbar einer der zentralen Begriffe des Wahlkampfwortschatzes der ÖVP sein wird, ist überraschend. Denn an der Verwendung des Wortpaars "Gerechtigkeit" und "Solidarität" erkannte man bisher in der Wolle gefärbte Sozialdemokraten.

Dabei liegt Kurz mit der Adoption des Gerechtigkeitsparadigmas durchaus im aktuellen europäischen Trend der Konservativen: Theresa Mays - katastrophale - Wahlkampagne legte größten Wert darauf, soziale Ungerechtigkeiten anzusprechen, und auch die CDU/CSU besetzt in der - nach heutigen Prognosen voraussichtlich höchst erfolgreichen - Bundestagswahlkampagne das Thema, auch wenn die Christdemokraten auf Drängen des christlich-sozialen Granden Horst Seehofer lieber das Wort der "sozialen Balance" statt der "sozialen Gerechtigkeit" im Mund führen.

Aber was versteht Kurz unter Gerechtigkeit? Der ÖVP geht es vor allem um Steuersenkung und darum, dass hart arbeitende Menschen wieder in die Lage versetzt werden, Eigentum zu bilden. Zweifellos ein hehres Ziel.

Aber wie hält die ÖVP es mit Chancengerechtigkeit? Welche Bildungsangebote schlägt die ÖVP für Kinder aus unterprivilegierten Familien vor? Wie soll nach dem Willen der ÖVP mehr Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern hergestellt werden? Und wie hält Sebastian Kurz es mit der Steuergerechtigkeit, wenn leistungslose Einkommen (etwa Kursgewinne aus Aktienverkäufen, Grundstücksspekulation, Erbschaften oder Zinserlösen) steuerlich viel bessergestellt sind als der Lohn- oder Einkommenssteuer unterliegende Leistungseinkommen hart arbeitender Österreicherinnen und Österreicher? Ist es gerecht, dass die reichsten 10 Prozent der Österreicher 7,6 Mal so viel Vermögen besitzen wie das ärmste Zehntel - wobei sich dieser Wert in den vergangenen Jahren verschlechtert hat?

So versteht eben jeder etwas anderes unter Gerechtigkeit.