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Der visionäre Präsident

Von Reinhard Göweil

Leitartikel
Chefredakteur Reinhard Göweil.

Viele Politiker der Qualität eines Emmanuel Macron gibt es in Europa derzeit nicht. Allein deswegen ist zu hoffen, dass er nicht scheitert. Was der französische Präsident zur "Neugründung" Europas an der Sorbonne-Universität sagte, ging weit über alles hinaus, was bisher unter dem Sammelbegriff "Reformen" zu hören war. Natürlich werden jetzt die Macht-Techniker einwenden, ein gemeinsames Budget für die Eurozone sei in diesem Ausmaß illusorisch, ein gemeinsamer Finanzminister dafür sowieso. Aber das ist nicht der Punkt. Macron ist der erste Regierungspolitiker seit langem, der Europa kulturell definiert und seine Ideen nicht an Paragrafen im EU-Vertrag misst. Er gibt Europa gemeinsame Symbole - und vertraut den Jungen. Bis 2024 soll jeder Student und Lehrling sechs Monate in einem anderen EU-Land verbracht haben, Uni-Absolventen sollen zwei Fremdsprachen beherrschen. Denn Vielsprachigkeit sei belebend, nicht trennend. Danach werden diese Jungen selbst ein gemeinsames Europa bauen wollen, so sein Kalkül.

Macron will EU-weite Bürgerforen, die abseits der Parteien Ideen zu Europa diskutieren. Bei der EU-Wahl 2019 will er transnationale Listen ermöglichen, die jene Plätze im EU-Parlament besetzen, die britische EU-Abgeordnete räumen müssen. Eine transparente Handelspolitik und - als Milchschaum auf dem Kaffee - politische Leitlinien wie "Wettbewerbsfähigkeit ohne Solidarität funktioniert nicht". Denn Europa muss sich gegen die Konkurrenz Asiens behaupten. Dazu gehört nicht nur eine leistungsfähige Wirtschaft, sondern auch soziale Konvergenz.

Die Bedenkenträger werden das Haupt wiegen und erklären, warum das eine und das andere nicht funktioniere. Macron wischte sie mit dieser Rede einfach beiseite. Er erfüllte den Begriff Europa mit Zukunft statt mit Krise. Über einzelne Punkte mag zu Recht gestritten werden, aber was Macron da am Dienstag vorlegte, war - seit Helmut Kohl - das Beste zum Thema Europa, das ein Staatschef von sich gab. Jetzt liegt es - wie schon bei seiner "En Marche"-Bewegung in Frankreich - an Europas Zivilgesellschaft, diese Ideen mit Leben zu erfüllen. Für die etablierte Parteienstruktur bedeutet das neue Gefahr. Transnationale, also europäische Bewegungen, werden einen weiteren Teil ihrer Intelligenz absaugen. Und Rechtspopulisten sehen dabei überhaupt alt aus.