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Gedanken über Gott und Kirche

Von Thomas Seifert

Leitartikel
Thomas Seifert.

Die Timelines auf Instagram, Facebook und Twitter sind voll mit Christbäumen, Keksen und Kerzen. Der Papst spricht seinen "Urbi et Orbi"-Segen am Petersplatz in Rom. Franziskus redet über das Leid der Migranten und über ein "inzwischen überholtes Entwicklungskonzept" das "zum Niedergang des Menschen" führe, in einer Art und Weise wie es die Spitzenvertreter von Amnesty International und Greenpeace nicht besser könnten. In Christmetten wird die Geschichte von der Herbergssuche erzählt und daran erinnert, dass es in aller Welt und sogar mitten in Europa Menschen gibt, die in Armut leben und Unterstützung benötigen. Von Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit ist viel die Rede in diesen Tagen. Das wärmt die Herzen.

Das ist die christliche Weihnachts-Botschaft, wie säkulare Humanisten – wie der heutige Leitartikler einer ist – sie verstehen.

Den Durchbruch von Weihnachten in unseren Breiten ist Kaiser Konstantin zu verdanken, der im Jahr 325 am Konzil von Nicäa, die Sonnenwende, den Geburtstag des römischen Sonnengottes Sol invictus zum Geburtstag von Christus umdeutete. Die Wurzeln dieses Sonnengottes, der auch bei den Anhängern des Mithraskults (bei dem das Christentum etliche Anleihen genommen hat) große Bedeutung hatte, lassen sich bis zu den alten Ägyptern zurückverfolgen, die Verehrung des Sonnengott Aton ist schon aus der Zeit von Pharao Amenophis IV. benannt. Im Jahr 337 ließ sich Kaiser Konstantin taufen und 392 erklärte Kaiser Theodosius das Christentum zur alleinigen Staatsreligion. Mit dem Aufstieg des Christentums geht gleichzeitig die Antike zu Ende und das Frühmittelalter beginnt. Die Geschichte Europas ist nun eng mit der Geschichte des Christentums und der Kirche verknüpft. Und die Adaptation von Weihnachten war der erste Akt dieser Vermählung zwischen Staat und Kirche.

Die Entwicklung Europas läßt sich ab diesem Zeitpunkt gut entlang der Zeitleiste der Kirchen- und Geistesgeschichte erzählen: Als etwa Martin Luther vor 500 Jahren im Jahr 1517 seine Thesen vorstellte und die Gläubigen ein Stück weit gegenüber dem Klerus emanzipierte, sprengte er das Monopol der Himmels- aber auch Weltdeutung der katholischen Kirche. Dann ging es schnell: Die kopernikanischer Wende 1543, als Kopernikus den Übergang vom geozentrischen Weltbild zum heliozentrischen Weltbild einleitete. Diesen Weg setzten dann Johannes Kepler und Galileo Galilei fort und untergruben die Deutungshoheit des Klerus weiter. Die Wissenschaften gaben die besseren und logischeren Antworten auf die Fragen der denkenden Menschen als der Klerus das vermochte. Mit dem Aufkeimen der Aufklärung um das Jahr 1700 wurde das rationale Denken in den Mittelpunkt gestellt. Ohne Aufklärung keine Französische Revolution, kein Liberté, égalité, fraternité. Kein Napoleon, keine Wiener Moderne.

Sukzessive verloren Kirchen und Glaube in Europa weiter an Boden, die Bildungseliten beschäftigten sich lieber mit den Wissenschaften und den aufregenden Künsten als mit den erstarrten Ritualen der Kirche.

Der Blutrausch des ersten Weltkriegs und der menschenverachtende Massenmord durch das Nazi-Regime markiert aber gleichzeitig den völligen moralischen Bankrott des damaligen Europa – der schon zuvor in der Kolonialherrschaft europäischer Mächte sichtbar geworden war.

Die Vision eines geeinten, friedlichen Europa, das auf einem starken Fundament aus Menschenrechten ruht, soll die Lehre aus der enthemmten Gewalt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein. Ein neuer, humanistischer Rationalismus.

Die Kirchen boten immer wieder einen moralischen Kompaß – vor allem im Osten Europas: Im Prager Frühling und bei den Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche. Im Westen bei den Friedensmärschen und bei ihrem Engagement für eine gerechte Welt, für Entwicklungszusammenarbeit und zur Bekämpfung von Unrecht, Armut und Not. Säkulare Humanisten sind daher immer wieder zu recht beeindruckt vom Mut und der Beharrlichkeit von engagierten Katholiken und Protestanten für Freiheit, Solidarität und Humanismus.

Eine Hilfestellung bei der Sinnsuche bietet der Glaube für säkulare Humanisten freilich nicht: Astro- und Teilchenphysik, Geologie und Biologie liefern die Erklärungen darüber, was die Welt und das Universum tief im Innersten zusammenhält. Die Fachrichtung der Neurotheolgie kommt der Erklärung näher, wo Gott und Erleuchtung sitzt – nämlich in menschlichen Hirn. Joga, Meditation oder Kunst- und Kulturgenuß helfen dem aufgeklärten Menschen der Postmoderne besser zu sich zu finden, als der Besuch eines Gottesdienstes.

Dennoch: Es schadet auch Atheisten und Agnostikern keineswegs, über Gott und Kirche nachzudenken. Und säkulare Humanisten können Weihnachten genießen: Das christliche Fest mit heidnischen Wurzeln bringt die Menschen näher zueinander. Und das ist doch schön.