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Vor lauter Verantwortung

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

Verantwortung übernehmen: So lautet die große Rechtfertigung dafür, dass sich Union und Sozialdemokratie in Deutschland noch einmal an die Bildung einer großen Koalition heranwagen. Das ist so anständig wie aufrichtig. An Eigennutz herrscht bekanntlich kein Mangel, schon gar nicht in der Politik. Wenn CDU, CSU und SPD allerdings nicht aufpassen, kann es in den nächsten dreieinhalb Jahren durchaus passieren, dass es dem größten und wichtigsten Mitgliedsland der Europäischen Union vor lauter Verantwortungsbewusstsein die demokratische Mitte zerbröselt.

Vor allem die SPD, aber auch die CDU von Angela Merkel sind auf dem besten Weg, schweren Schaden zu nehmen. Nicht, weil der Koalitionsvertrag schlecht wäre; sondern weil große Teile der beteiligten Parteien diese Koalition ablehnen. Aus guten und auch weniger guten Gründen, aber das "Warum" ist ohnehin bloß zweitrangig. Es geht um das "Dass" der Ablehnung.

Eine starke Parteiführung wäre in der Lage, diese Widerstände zu überwinden, zumal die politische Großwetterlage in Deutschland in wenigen Monaten bereits wieder ganz anders aussehen kann. Das Problem ist nur: Die SPD steht ausgerechnet in dieser Situation völlig neben sich und ist de facto führungslos. Ob Klubchefin Andrea Nahles die richtige Persönlichkeit zur richtigen Zeit an der Spitze der SPD am richtigen Ort sein wird, kann nach derzeitigem Stand der Dinge niemand seriös beurteilen. Und der Verfall der innerparteilichen Autorität von CDU-Chefin Angela Merkel kann fast live im TV verfolgt werden.

Hinzu kommt, dass eine endgültige Entscheidung darüber, ob die Neuauflage der großen Koalition jetzt tatsächlich zustande kommt, noch weitere drei Wochen auf sich warten lässt. Erst am 4. März soll das Ergebnis der SPD-Urabstimmung über den Koalitionsvertrag feststehen. Weitere drei Wochen lähmende Unsicherheit, in der die Debatte über den Kurs der deutschen Politik ungesteuert vor sich hintreibt und jederzeit neue Volten zu schlagen imstande ist. Schlag nach bei Martin Schulz.

Natürlich ist es möglich, dass Deutschland in wenigen Monaten schon wieder jene stabile, führungsstarke und so konflikt- wie kompromissfähige Demokratie ist, die das Land, aber auch Europa braucht. Aber mittlerweile ist die Gefahr real, dass die Richtungskämpfe in den Regierungsparteien weitergehen und in dreieinhalb Jahren die Bürger genug von jenen Parteien haben, die zu den Fundamenten ihrer Republik gehören. Dann wären Neuwahlen tatsächlich der bessere Weg für alle gewesen. Vor lauter Verantwortungsbewusstsein kann man auch die falsche Entscheidung treffen. Deutschland und Europa wäre es nicht zu wünschen.