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Glauben schlägt Gewissheit

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

"Das erste Opfer des Krieges, ist die Wahrheit": Der Satz stammt von Hiram Johnson aus dem Jahr 1914 und avancierte seither zum geflügelten Bonmot. Mittlerweile sind wir sogar einen Schritt weiter, weil wir wissen, dass Johnsons Diktum auch nur die halbe Wahrheit ist, und deshalb ja eigentlich als Lüge entlarvt werden muss.

Giftgas in Syrien, Nervengift in Großbritannien, falsche Freunde mit manipulierten Botschaften auf Facebook, verdeckte Hackerangriffe: Wer in diesem Labyrinth aus Behauptungen und Beteuerungen mit gutem Gewissen von sich sagen kann, er wisse, wer richtig liegt und wer falsch, dem ist mit großer Wahrscheinlichkeit allein deshalb schon nicht zu trauen. Nicht einmal mehr die beruhigende Gewissheit ideologischer Überzeugungen taugt noch als verlässlicher Kompass durch die Unübersichtlichkeit der internationalen Beziehungen, obwohl zwischen Trump auf der einen und Putin und Assad auf der anderen Seite immer noch Welten des Graduellen liegen. Wer diesen Unterschied mit bloßem Auge nicht zu erkennen vermag, dem ist mit Argumenten von dieser Welt nicht zu helfen.

Nur hilft uns dieses Wissen allein nicht weiter, immerhin wäre Trump nicht der erste US-Präsident, der den Einsatz militärischer Gewalt mit falschen Vorwürfen begründet, und Assad wäre nicht der erste nahöstliche Diktator, der Giftgas gegen seine eigenen Bürger einsetzt, zumal er es mit großer Sicherheit in der Vergangenheit bereits selbst getan hat. So gesehen ist fast allen fast alles zuzutrauen.

Die meisten Medien sind in dieser Situation auch keine wirkliche Hilfe. Ihre Berichterstattung folgt viel zu oft der Unmittelbarkeit der ersten Vermutung. Geschwindigkeit geht dann auf Kosten überprüfter Fakten, zumindest aber plausibler Wahrscheinlichkeiten, zumal sie nur in den seltensten Fällen auf zweifelsfrei überprüfbare Informationen von vor Ort zurückgreifen können.

Am Ende degenerieren Vorwürfe zu so etwas wie Glaubensfragen. Und zweifellos ist es genau das, worauf die streitenden Parteien mit ihren Strategien abzielen.

Vielleicht sollten wir uns deshalb auf eine noch ältere Gewissheit zurückziehen. Vor 2500 Jahren entlarvte Sokrates tradierte Weltsichten als Scheinwissen und setzte dem sein "Ich weiß, dass ich nichts weiß" entgegen. Diese Haltung eines radikalen infrage Stellens müsse, so der griechische Philosoph, der Ausgangspunkt sein, von dem aus wir Menschen nach gesichertem Wissen zu fahnden beginnen.

Weit haben wir es also gebracht. Die Wunderwaffen der digitalen Anarcho-Kommunikation zwingen uns dazu, wieder von ganz vorne, bei der Geburtsstunde der abendländischen Wahrheitssuche vor zweieinhalb Jahrtausenden anzufangen.