Zum Hauptinhalt springen

Trutzburg Wien

Von Thomas Seifert

Leitartikel
Thomas Seifert ist stellvertretender Chefredakteur der "Wiener Zeitung".
© WZ

Der 1. Mai in Wien, das gehört in Wien seit dem Jahr 1890 zur sozialdemokratischen Folklore. SPÖ-Sympathisanten marschieren mit ihren roten Fahnen mit den drei Pfeilen - gegen Faschismus, Kapitalismus und Reaktion - auf, und die Genossinnen und Genossen tragen wie jedes Jahr eine rote Nelke am Revers. Der Tag ist eine Standortbestimmung und Selbstvergewisserung der 1888 gegründeten SPÖ.

Diesmal ist die Partei erstmals seit dem Jahr 2006 in der Opposition, die politischen Frontverläufe sind so klar wie seit damals nicht mehr. Eine dieser Fronten, das wurde beim Nationalratswahlkampf 2017 besonders deutlich, verläuft entlang der 136,5 Kilometer langen Stadtgrenze von Wien. Die Stadtgrenze wird zur Kulturkampfzone: Mögen sie in der Provinz Maibäume aufstellen - in Wien zelebriert man ein sozialdemokratisches Hochamt.

Doch die Wiener Sozialdemokratie ist seit 100 Jahren im Dilemma: Erst seit der Gründung der ersten Republik und der Einführung des allgemeinen Wahlrechts stellt sie in Wien regelmäßig den Bürgermeister. Gleichzeitig hat Wien aber mit dem Untergang der Donaumonarchie sein natürliches Hinterland verloren: Wien war bis dahin ein perfektes Abbild des riesigen Habsburgerreichs: multiethnisch, multireligös, multikulturell, bunt, vielsprachig. Die Stadt kam nicht zuletzt dank des Zustroms aus den Kronländern zur Blüte. Dieser Facettenreichtum der Stadt gepaart mit einem Mix aus Kooperation und Konkurrenz zu den Monarchie-Metropolen Prag und Budapest schuf das geistige Substrat, das unter anderem die Wiener Moderne hervorbrachte.

Nach dem Ende der Monarchie waren die Bezugspunkte Wiens aber nicht mehr Prag, Budapest oder Triest, sondern die Republik Österreich, der Rest, der übrig geblieben war, wie Georges Clemenceau bei den Friedensverhandlungen im Pariser Vorort Saint Germain festgestellt hatte.

Einzelne Mitglieder der Bundesregierung (ironischerweise stammt der Wien-Kritiker Sebastian Kurz aus Meidling und Heinz-Christian Strache aus Wien-Landstraße) werden die Bundeshauptstadt auch weiterhin als Punching-Ball im politischen Sparring benutzen. Die Wiener Rathaus-Granden wiederum werden darauf verweisen, dass nur in Salzburg die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung höher ist als in Wien oder es nirgendwo sonst im Land mehr Ganztageskindergärten gibt. In Zeiten von Türkis-Blau deuten die Sozialdemokraten Wien zur Trutzburg um. Rathausplatz gegen Ballhausplatz - das wird das politische Match der nächsten Jahre.

Ob der neue Wiener Bürgermeister Michael Ludwig diese Rolle ebenso beherrscht, wie Michael Häupl dies während der Jahre von Wolfgang Schüssel getan hat, wird man sehen.