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Du sollst nicht töten?

Von Matthias Ziegler und Michael Schmölzer

Politik

Die Kirchen haben sich - wie jetzt die russische Orthodoxie - immer wieder in den Dienst des Krieges gestellt, oft aber auch zu Gewaltlosigkeit aufgerufen.


Jesus war das, was man einen Pazifisten nennen könnte. Und schon im Alten Testament lautet das fünfte Gebot: "Du sollst nicht töten." Dennoch ist das Christentum bis in die jüngere Vergangenheit hinein alles andere als friedlich gewesen, nur zu oft war Religion - vorgeschoben oder tatsächlich - das Motiv für blutige Gewalt. Populäres Beispiel eines verlustreichen christlichen Waffenganges sind die mittelalterlichen Kreuzzüge, als Ritterheere gen Osten zogen um das "Heilige Land", das in muslimischer Hand war, brutal zurückzuerobern.

Auch später sorgte die Kirche für seelischen Beistand und die nötige Motivation, wenn es ins Feld ging. 1683 soll der Kapuzinerpater Marco d’Aviano in der St.-Josefs-Kirche auf dem Wiener Kahlenberg eine Heilige Messe gefeiert haben, bei der ihm der polnische König Jan Sobieski ministrierte; jener Jan Sobieski, der danach - laut Überlieferung auch aufgrund der anfeuernden Worte des Paters - mit seinem Entsatzheer die zahlenmäßig überlegenen Osmanen überwältigte. Bis heute wird jedes Jahr auf dem Kahlenberg zum Gedenken an seinen Sieg am 12. September eine Festmesse gefeiert.

Pazifisten und Waffensegnungen

Im Ersten Weltkrieg waren Waffenweihen üblich, katholische Geistliche segneten feierlich Kanonen, Granaten und Karabiner, k.u.k-Soldaten versammelten sich knieend zum Gebet, ehe sie "für Gott, Kaiser und Vaterland" in Schlachten zogen, die völlig sinnlos Millionen das Leben kosteten. Einigen Quellen zufolge sollen auch im Zweiten Weltkrieg noch Panzer gesegnet worden sein. Die Waffenweihen, die als "Schwertsegnungen" in liturgischen Büchern abgedruckt waren, wurden erst im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 bis 1965) aus diesen entfernt. Zuvor gab es je nach Waffengattung unterschiedliche Segensformeln. Und selbst im gar nicht so alten Kirchenlied "Sei gepriesen, o Herr" aus dem Jahr 1977 heißt es: "Wir legen ab unsre Angst, und wir tragen die Waffen unseres Herrn. Und wir zieh’n in den Krieg im Namen unseres Herrn und sind siegreich in alle Ewigkeit."

Auf der anderen Seite beeindrucken Beispiele christlicher Gewaltlosigkeit. Etwa das des seliggesprochenen Oberösterreichers Franz Jägerstätter, der 1943 den Dienst an der Waffe verweigerte und das mit dem Leben bezahlte. "Er sei erst im Laufe des letzten Jahres zu der Überzeugung gelangt, dass er als gläubiger Katholik keinen Wehrdienst leisten dürfe", heißt es im Feldurteil des Reichskriegsgerichts. Und: "Es gebe Dinge, wo man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen; auf Grund des Gebotes ‚Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst‘ dürfe er nicht mit der Waffe kämpfen." Dabei hatte ihm sogar der damalige Linzer Bischof Josef Fließer persönlich von der Wehrdienstverweigerung abgeraten. Jägerstätter wurde von den Nazis wegen "Wehrkraftzersetzung" zum Tode verurteilt und mit dem Fallbeil hingerichtet.

Patriarch gießt Öl ins Feuer

Angesichts des Ukraine-Krieges hat allerdings nun Patriarch Kyrill I., Oberhaupt der Russsich-Orthodoxen Kirche, Öl ins Feuer gegossen. Knapp nach dem Angriff sprach er in einer Predigt von einer Bedrohung nicht nur für Russland, sondern für die ganze "Rus". Der Begriff "Rus" spielt auf die ethnokulturelle und kirchliche Einheit von Russland, Weißrussland und Ukraine an. "Wir dürfen uns nicht von dunklen und feindlichen äußeren Kräften auslachen lassen", so Kyrill. "Wir müssen alles tun, um den Frieden zwischen unseren Völkern aufrechtzuerhalten und gleichzeitig unser gemeinsames historisches Vaterland vor allen äußeren Einwirkungen zu schützen, die diese Einheit zerstören können."

Die Innsbrucker Religionssoziologin Kristina Stoeckl attestiert der Russisch-Orthodoxen Kirche eine wesentliche Mitschuld am Ukraine-Krieg. Sowohl das Konzept der "Russki Mir", der "Russischen Welt", als auch die Sicht als Verteidiger der christlichen Werte gegen einen angeblich feindlichen Westen seien ursprünglich theologische Konzepte gewesen, die nach und nach Eingang in die russische Politik gefunden hätten. Kyrills Positionierung hat in der Orthodoxie für Empörung gesorgt, nicht nur im Bereich der seit 2018/2019 eigenständigen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, sondern auch bei vielen gläubigen Russen. Zuletzt hat der Patriarch versucht, die Wogen ein wenig zu glätten.

"In Gottes Namen, hört auf!"

Das Oberhaupt der Katholiken hat eindeutig Stellung bezogen und den Ukraine-Krieg als "sinnloses Massaker" verurteilt. Der Krieg sei unmenschlich und ein Sakrileg, weil er gegen die Heiligkeit des menschlichen Lebens verstoße, erklärte Papst Franziskus. Wenige Tage davor hatte er mit einem Aufschrei via Twitter für Aufsehen gesorgt: "Niemals Krieg! Denkt vor allem an die Kinder, die der Hoffnung auf ein würdiges Leben beraubt werden: tote Kinder, Verwundete, Waisen; Kinder, die Kriegsreste als Spielzeug haben (. . .) In Gottes Namen, hört auf!"

Eine den Krieg spirituell und unmittelbar unterstützende Vergangenheit hier - leidenschaftliche Friedensappelle dort: Die Position der Kirche scheint widersprüchlich. Die "Wiener Zeitung" hat darüber mit Österreichs Militärbischof Werner Freistetter, der seit 2015 für 98.000 Katholiken im Umfeld des Bundesheeres zuständig ist, gesprochen. Der katholische Kirchenmann stellt zu seinem Amt fest: "Dass sich die Kirche um Soldaten kümmert, reicht ja schon Jahrhunderte zurück. Früher waren es Orden, zum Beispiel die Franziskaner, die Verwundete und Sterbende versorgt haben." Eine eigene Militärdiözese in Österreich gibt es allerdings erst seit 1986.

Aber ist ein Bischof für Soldaten, deren Handwerk in letzter Konsequenz das Töten ist, also der Gegensatz zur christlichen Nächstenliebe, nicht ein Widerspruch in sich? "Es geht da nicht um Waffen", betont Freistetter, "sondern immer um die Menschen". Und: "In den besonderen Lebensumständen, in der besonderen, äußerst fordernden Situation, in die Soldatinnen und Soldaten sie geschickt werden, bedarf es auch besonderer Seelsorge." Es handle sich um eine Begleitung mit Gottesdiensten, Gebeten, Gesprächen, erklärt der Militärbischof, dessen Wahlspruch übrigens "Religio et Pax" ("Religion und Frieden") lautet.

Das Recht auf Verteidigung

Er selbst hat viele UN-Friedensmissionen begleitet: am Golan, im Libanon, im Kosovo, in Bosnien. "Da ist vieles, was in so einer Situation hochkommt. Fragen, die das Menschlich-Humanitäre betreffen. Und gerade in den Auslandseinsätzen suchen Menschen, die sonst wenig mit der Kirche zu tun haben, eine Begleitung, die ihnen der Seelsorger ohne viele Vorgaben seitens des Militärs geben kann."

Gibt es eigentlich einen gerechten Krieg? Kann es das überhaupt geben? Nun, diesen Begriff meidet die Kirche ganz bewusst, sagt der Militärbischof. Allerdings ist im Dekret "Gaudium et Spes" des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche in der Welt von heute festgehalten, dass der Krieg Leid und Not anrichtet, aber dass er nicht aus der Welt geschafft ist. "Und da gibt es eine klassisch gewordene Formulierung, die ungefähr so geht: Solange die Gefahr von Krieg besteht und es keine internationale Autorität gibt, die mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet ist, kann man einer Regierung, wenn alle friedlichen Mittel ausgeschöpft sind, das Recht auf eine sittlich erlaubte Verteidigung nicht absprechen", erläutert Freistetter.

Das im Völkerrecht geltende Verbot des Angriffskrieges, der als Verbrechen gilt, ja sogar der Androhung von Gewalt zwischen Staaten, deckt sich wiederum mit der katholischen Sozialverkündigung. Die Ukrainer, die ihr Land verteidigen und dabei womöglich russische Soldaten töten, handeln allerdings im Einvernehmen mit der Position der Kirche. "Es ist freilich eine der schwierigsten Entscheidungen, ob man sich einem Aggressor entgegenstellt oder nicht", sagt der Bischof. "Offensichtlich wollen weite Kreise der Bevölkerung nicht zulassen, dass ihre Eigenständigkeit als Staat und auch als Volksgruppe in Frage gestellt wird, was ja eines der russischen Kriegsziele ist. Da geht es tatsächlich um das Überleben der Ukraine als Staatswesen und als eigenes, kulturell geprägtes Volk."

Beschämung des Gegners

"Ich höre immer wieder: ‚Ja, die hätten das über sich ergehen lassen sollen, das hätte ihnen vieles erspart‘", sagt Freistetter. "Mir fällt dazu die Entscheidung Großbritanniens unter Winston Churchill im Zweiten Weltkrieg ein, dem Dritten Reich Widerstand zu leisten - im Bewusstsein, dass das natürlich zu großen Opfern führen würde, nicht nur zu militärischen, sondern auch zu zivilen. Es gab irgendwann die Einsicht, dass die Appeasement-Politik der falsche Weg war." Auch ein Nachgeben in der Ukraine würde den Aggressor womöglich nur zu weiteren Schritten ermutigen, gibt der Kirchenmann zu bedenken.

Die Beispiele, die oft angeführt werden - die andere Wange, die man hinhalten solle, nicht eine Meile mitgehen, sondern zwei, nicht nur den Rock, sondern auch den Mantel lassen -, bezeichnet der Bischof als zuvorkommendes, entgegenkommendes Verhalten, das den Gegner eigentlich beschämen soll. "Da wird also etwas eingefordert, das ihn überrascht und zum Nachdenken bringt. Es wäre aber falsch, die Heilige Schrift als moralisch-ethisches Handbuch zu begreifen."

Auf den militärischen Bereich umgelegt, interpretiert Bischof Freistetter Jesu Bergpredigt als Aufforderung, alles zu tun, damit es gar nicht erst zum Krieg kommt. Der Bischof betont "den Vorrang der friedlichen Streitbeilegung, des Kompromisses, der Verhandlungen". Und, wenn es doch zum Krieg kommt, geht es danach um eine Wiederherstellung des Friedens und um Versöhnung. "Das wird auch in der Ukraine eine große Herausforderung sein."