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Der Seneca-Effekt

Von Thomas Seifert

Leitartikel
Thomas Seifert ist stellvertretender Chefredakteur der "Wiener Zeitung".
© WZ

Der Kollaps von Systemen beginnt plötzlich und unerwartet, verläuft rasant, und das Ergebnis ist oft katastrophal. Das war beim Zusammenbruch des Römischen Reiches ebenso der Fall wie bei der Finanzkrise des Jahres 2008. Ugo Bardi, Professor für Physikalische Chemie an der Universität Florenz, nennt dieses Phänomen den Seneca-Effekt, weil der Stoiker Lucius Annaeus Seneca, (1 bis 65 n. Chr.) als Erster verstanden hat, dass ein Kollaps von Systemen anderen Regeln gehorcht als deren Aufbau. Der Seneca-Effekt ist das vielzitierte Fass, das sich nur langsam füllt, ehe es plötzlich überläuft.

Bardi versucht im Interview mit der aktuellen Beilage "Wiener Journal", dem Zusammenbruch auch positive Aspekte abzugewinnen: "Zusammenbruch ist unvermeidlich. Aber das ist auch eine gute Sache. Denn wenn das Alte nicht ginge, wäre kein Platz für das Neue." Damit meint der Chemiker aber keineswegs, dass der Homo sapiens von der Weltbühne abtreten soll. Er rät dazu, resilientere Systeme aufzubauen: "Wenn wir mehr Resilienz wollen, müssen wir Diversität kultivieren. Das System passt sich am besten an, wenn es divers ist."

Da hat der Italiener recht. Während ein Mischwald ökologischen Schocks trotzen kann, reißt auch schon ein mittelstarker Sturm die flach wurzelnden Bäume eines Fichtenwaldes um, Fichtenmonokulturen sind anfälliger für Borkenkäferbefall und Waldbrände - dennoch hat die Forstwirtschaft wegen der höheren Erträge und Erlöse jahrzehntelang auf Fichtenwälder gesetzt. Mehr Diversität unter den Akteuren auf den Finanzmärkten hätte wohl die schlimmsten Exzesse, die 2008 zur Finanzkrise geführt haben, verhindert: Es waren Krawatten tragende, auf Risiko geeichte männliche Finanzjongleure und Banker - alle mit ähnlichem Ausbildungshintergrund -, die die Weltwirtschaft damals fast in den Abgrund getrieben haben.

Warum hat man den männlichen Testosteron- und Adrenalinjunkies in den Investmentbanken nicht umsichtige Frauen als Aufpasser zur Seite gestellt? Oder vielleicht hätten auch ein paar kapitalismuskritische Späthippies mit sozialwissenschaftlichem Ausbildungshintergrund die Trading Floors als Spaßverderber bereichert? Nur mit möglichst bunten, diversen Teams, deren Mitglieder aus möglichst unterschiedlichen Denkschulen mit möglichst unterschiedlichen Lebensgeschichten kommen, kann Gruppen- und Silodenken unterbunden werden.

Beim Europäischen Forum Alpbach (ab 15. August) werden die Themen "Resilienz und Diversität" als roter Faden dienen - in unruhigen, chaotischen Zeiten braucht die Gesellschaft Sicherheitspolster und Fehlertoleranz, um nicht zum Opfer des Seneca-Effekts zu werden.