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Das große Wettzürnen

Von Judith Belfkih

Leitartikel
Judith Belfkih, stellvertretende Chefredakteurin der "Wiener Zeitung".

Jetzt sind die Männer dran mit zürnen. Wie jener Physiker des Cern, der auf einer Fachtagung Frauen für untauglich erklärt hat, Physik zu betreiben. Diese sei schließlich "von Männern erfunden und aufgebaut worden". Dass jetzt Frauen auf politischen Druck in die Männer-Domäne drängen, sei Diskriminierung der Männer.

Am Tag der Kür einer Nobelpreisträgerin für Physik wirft diese Episode nicht nur einen absurden Schatten auf die männlich dominierten Naturwissenschaften, sondern zeigt auch die negativen Effekte von #MeToo. Das Cern hat übrigens reagiert und die Arbeit des Gastprofessors aus Pisa ausgesetzt.

Die #MeToo-Bewegung wurde von Frauen in aller Welt als Befreiungsschlag gefeiert. Endlich wehren sich die Frauen! Ein Jahr später erweist sich #MeToo eher als rachsüchtige wie unverhältnismäßige Waffe - denn als Instrument, um Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern herzustellen.

Keine Frage: Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe oder gar sexuelle Gewalt sind alles andere als Kavaliersdelikte. Viele Täter kamen und kommen bisher ungestraft davon. Auch, weil einzelne Delikte vom gesellschaftlichen Konsens geduldet wurden. Das ändert sich schon länger. Doch das aktuelle Anprangern bringt neben der Befreiung vor allem eines: Frauen zementieren ihren Opferstatus und schreiben die Erzählung vom schwachen Geschlecht in unzähligen Kapiteln fort. Die Debatte hebelt die Rechtsstaatlichkeit aus, Unschuldsvermutungen fallen, es zählt allein die Anklage.

Das führt zu mehr Gräben statt zu mehr Gleichheit. Zwischen den Geschlechtern, weil sich bedroht fühlende Männer ihrerseits die verbalen Waffen wetzen und die ihnen von Frauen verordnete Sprachlosigkeit brechen. Und unter Frauen, weil sich nicht alle mit den Mitteln der Bewegung identifizieren können - und sich nicht in moralische Geiselhaft einer Frauen-Solidarität nehmen lassen wollen, in der Für-Frauen-Sein mitunter gleichgesetzt wird mit Gegen-Männer-Sein. Das große Wettzürnen wird damit jedenfalls zur Spirale verbaler Gewalt.

Viele Frauen hadern mit #MeToo - auf eine ähnliche Weise, wie sie sich mit dem aktuellen Frauen-Volksbegehren schwertun. Am Ziel beider kann es nicht liegen. Soziale wie finanzielle Gleichstellung kann keine Frau ernsthaft nicht wollen. Nur die Mittel gehen manchen zu weit. Männer zu entmannen, um Weiblichkeit zu stärken? Genau dieses Vorgehen kritisieren Frauen umgekehrt am Chauvinismus. Die positive Gegenerzählung zu so viel verbrannter Erde ist gerade erst dabei, geschrieben zu werden. Die "potente Frau" nennt Philosophin Svenja Flaßpöhler ihren Gegenentwurf einer neuen Weiblichkeit: Sie blickt wach, lustvoll und willensstark in die Zukunft - statt sich an Opferzählungen aus der Vergangenheit zu klammern.