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Doppelte Wirklichkeit

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

Manchmal geschieht es, dass zwei einander widersprechende Wahrheiten in der Wirklichkeit aufeinandertreffen. Und zwar gleichzeitig und unmittelbar.

In Österreich ist dies seit dem 15. Oktober 2017 der Fall.

Damals, also exakt vor einem Jahr, wählten die Österreicher einen neuen Nationalrat, in dem ÖVP und FPÖ gemeinsam auf 57,5 Prozent der Stimmen kamen. Kurz vor Weihnachten besiegelten Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache die Bildung der türkis-blauen Bundesregierung. Die seitdem veröffentlichten Meinungsumfragen sehen dieses Kräfteverhältnis bis heute weitestgehend in Stein gemeißelt.

Diese parlamentarische Wirklichkeit ist allerdings nur die halbe Wahrheit der Republik. Rund zehn Monate vor dem 15. Oktober 2017 setzte sich der ehemalige Bundessprecher der Grünen, Alexander Van der Bellen, in der Stichwahl für das Amt des Bundespräsidenten gegen seinen von der FPÖ nominierten Kontrahenten Norbert Hofer mit 54 zu 46 Prozent durch.

Beide Ergebnisse sind ungebrochene politische Wirklichkeit, beide sind wirkmächtig, sie widersprechen einander, vor allem aber ergänzen sie einander. Deshalb greift die Rede von der türkis-blauen Republik viel zu kurz. Nur wer beide Mehrheiten - und alles dazwischen wie, nur als Beispiel, eine schwarze Absolute in Niederösterreich, 48 Prozent für die SPÖ in Kärnten, einen grünen Bürgermeister in Innsbruck - gleichzeitig im Blick hat, der vermag diese bunte Republik zu greifen und zu verstehen.

Deshalb täuscht auch die seit nunmehr eineinhalb Jahren, also seit dem Antritt von Sebastian Kurz als ÖVP-Obmann, erstaunlich stabile politische Großwetterlage. Tatsächlich schlummert in den auf Bundesebene wie festgezurrt scheinenden Kräfteverhältnissen die stete Möglichkeit zur neuerlichen Zäsur. Die Bandbreite der darin verborgenen Dynamik haben die prägenden Wahlen dieses Jahrzehnts - die Bundespräsidentenwahl 2016 und die Nationalratswahl 2018 - anschaulich vor Augen geführt.

Ihre Stabilität erfährt die aktuelle Konstellation deshalb nicht aus der Stärke der Parteien heraus, sondern aufgrund der dominierenden Themenlandschaft (Stichwort: Migration), zu welcher die Bürger eine weitgehend in sich gefestigte Meinung haben. Geraten jedoch erst einmal die Themen in Bewegung, wird die Angelegenheit auch für die Parteien wieder spannend. Dann wird sich zeigen, welche Prozentwerte welcher Partei auf Sand gebaut sind und wessen Stimmenanteil tatsächlich auf einem festen Fundament beruht. Ein solcher Themenbruch wird unweigerlich kommen. Die Frage ist nur, wann. Und welches Metathema an die Stelle von Migration und Integration treten wird.