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Der Schutz des Kollektivs

Von Judith Belfkih

Leitartikel
Judith Belfkih, stellvertretende Chefredakteurin der "Wiener Zeitung".

Enthüllen oder verhüllen? Preisgeben oder geheimhalten? Name oder Nummer? Es sind hitzige Debatten, die sich aktuell um Fragen ranken, bei denen es um das Ausloten persönlicher Grenzen geht, um das Festschreiben neuer Regeln für ein mitunter aus den gewohnten Bahnen laufendes Miteinander. Ob Kopftuch tragende Frauen, mit Zahlen beschriftete Wiener Türschilder, die teils absurden Auswüchse der Datenschutzgrundverordnung oder die nicht mehr belegbare Autorenschaft bei sexistischen Nachrichten im Netz - immer steht die Suche nach einem neuen Kodex im Zentrum, wird ein gesellschaftlicher Wertekanon ein Stück weit neu geschrieben.

Die Aufgeregtheit um die einzelnen Themen, in denen dieses Ringen um zeitgemäße soziale Normen Raum greift, ist nachvollziehbar. Gesellschaftliche Identität entsteht nicht auf dem politischen Reißbrett, sie muss in vielen Etappen errungen, verworfen und neu errungen werden. Das ist ein langsamer, mitunter zäher Prozess, bei dem das Pendel stark in extreme Richtungen ausschlagen kann. Auch aktuell lassen sich bei diesen sich wandelnden Identitätsparametern höchst gegensätzliche Tendenzen beobachten: hin zum absoluten Kontrollverlust und hin zur ebenso absoluten Kontrolle.

Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn deren Mitglieder sich lieber anonym hinter Zahlen verbergen, statt mit dem eigenen Namen stolz ihr Gebiet zu markieren? Was sagt es über sie, wenn sie sich im Netz hasserfüllt hinter Pseudonymen verstecken, anstatt für die eigene Meinung einzustehen? In all diesen Fällen ringt eine Gesellschaft um das Wiedererlangen einer Kontrolle, die nicht zuletzt als Folge der Digitalisierung und durch Veränderungen im Zuge von Migration zerbröckelt ist. Es geht darum, wie viel der Einzelne preisgibt von sich, und was er die Welt sehen lassen will. Diesem Ringen um Kontrolle steht das unkontrollierbar gewordene, höchst einträgliche Geschäft mit den Daten gegenüber, die jeder Einzelne täglich im Netz hinterlässt. Angesichts der Dimension von Datenmächtigkeit großer Netzplayer wirken alle anderen Debatten wie Stellvertreterkriege, wie ein hilfloses Sich-Schützen- und Abgrenzen-Wollen - dort, wo es noch möglich ist. Denn je mehr diese persönlichen Konsum- und Profildaten der individuellen Kontrolle entgleiten, desto mehr entsteht die Sehnsucht nach dem Schutz durch die Anonymität des Kollektivs - in Form von Nummern auf Türschildern oder Pseudonymen in Sozialen Medien.

Der dahinterstehende digitale Kontrollverlust ist keine soziale Norm, die eine Gesellschaft sich zu erringen hat. Es ist eine politische Frage. Und doch hängen beide zusammen. Erst wenn es der Politik gelingt, den Einzelnen vor dem ungebremsten Datenzugriff zu schützen, wird das individuelle Bedürfnis verschwinden, sich voneinander abzuschotten.